Präventionsnetzwerke gegen Kinderarmut in Baden-Württemberg
In Baden-Württemberg ist etwa jedes fünfte Kind armutsgefährdet. Die Benachteiligungen junger Menschen durch Armutsgefährdung beschränken sich nicht nur auf die ökonomische Situation der Eltern, sondern werden in unterschiedlichen Lebensbereichen sichtbar. Das Aufwachsen in prekären Verhältnissen kann zudem auch im weiteren Lebensverlauf negative Konsequenzen nach sich ziehen. Um dem entgegenzuwirken und die Teilhabe armutsgefährdeter Kinder und Jugendlicher zu fördern, setzt das Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration Baden-Württemberg auf Präventionsnetzwerke gegen Kinderarmut. Im folgendem Beitrag wird das Konzept der Präventionsnetzwerke, ihre Förderung durch das Land und die Rolle der FamilienForschung Baden-Württemberg im Statistischen Landesamt genauer beleuchtet.
Eine Kurzanalyse der modularen Armutsberichterstattung für Baden-Württemberg beschäftigt sich mit den anhaltenden Preissteigerungen in unterschiedlichen Lebensbereichen und der Frage, wen diese besonders stark treffen.1 Die Veröffentlichung zeigt, welche Personengruppen in Baden-Württemberg besonders häufig von Armutsgefährdung betroffen sind: »Menschen mit Migrationshintergrund, Kinder, junge Erwachsene, über 65-Jährige, Einpersonenhaushalte, kinderreiche Paarfamilien, Alleinerziehende, Erwerbslose, gering Qualifizierte und Beziehende von Transferleistungen im Sinne einer Mindestsicherung«.2 Diese Schlussfolgerung reiht sich dem Bericht zufolge in die Erkenntnisse aus anderen Studien.3 Die zur Identifizierung der besonders gefährdeten Gruppen herangezogene Armutsgefährdungsquote wird dabei definiert als der »Anteil der Personen mit einem Äquivalenzeinkommen von weniger als 60 % des Landesmedians der Äquivalenzeinkommen der Bevölkerung in Privathaushalten am Ort der Hauptwohnung«.4 Im Jahr 2021 galten der Analyse zufolge rund 16,4 % der Bevölkerung in Baden-Württemberg als armutsgefährdet; unter den Minderjährigen waren es 20,8 %, was rund 395 000 jungen Menschen unter 18 Jahren entspricht.5 Armutsgefährdung betrifft somit jedes fünfte Kind im Land. Die Entwicklung der Armutsgefährdungsquote von jungen Menschen unter 18 Jahren wird in der folgenden Abbildung deutlich (Schaubild).
Armutsgefährdung kann sich nachteilig auf das Leben der Betroffenen auswirken. Insbesondere für junge Menschen kann das Aufwachsen in prekären Verhältnissen negative Konsequenzen nach sich ziehen, auch im weiteren Lebensverlauf. Diese Benachteiligung zeigt sich in unterschiedlichen Lebensbereichen und beschränkt sich nicht nur auf die ökonomische Situation des Elternhauses. So verweist der Bericht »Teilhabechancen von Kindern und Jugendlichen in Baden-Württemberg« etwa auf Nachteile in der materiellen Versorgung und der Wohnsituation, der Bildung, der sozialen Teilhabe und der Gesundheit von armutsgefährdeten Kindern und Jugendlichen.6 Auch der Gesellschaftsreport BW mit Titel »Familienarmut – ein Risiko für die Gesundheit von Kindern« nimmt gesundheitliche Nachteile wie beispielsweise ein erhöhtes Risiko für Adipositas, eine eingeschränkte Motorik und Zahngesundheit in den Blick.7
Um eine Benachteiligung der betroffenen Kinder und Jugendlichen in ihren Entwicklungschancen zu verhindern und ihre Teilhabe zu fördern, ist politisches Handeln gefragt. Die Verantwortung für direkte, finanzielle Transferleistungen liegt dabei beim Bund. Die Landesregierung Baden-Württembergs möchte sich dennoch für die Förderung der Teilhabe armutsgefährdeter Kinder und Jugendlicher einsetzen und setzt dabei insbesondere auf das Konzept der Präventionsnetzwerke gegen Kinderarmut.
Präventionsnetzwerke gegen Kinderarmut als zentrale Landesstrategie zur Armutsprävention
Das Land Baden-Württemberg hat sich zum Ziel gesetzt, in allen 44 Stadt- und Landkreisen Präventionsnetzwerke gegen Kinderarmut zu etablieren. Dieses Ziel wurde auch im Koalitionsvertrag verankert. Hierfür investiert das Land knapp 4 Millionen Euro in den kommenden Jahren. Aktuell bestehen in 22 von 44 Stadt- und Landkreisen in Baden-Württemberg Präventionsnetzwerke gegen Kinderarmut. Zum Jahresbeginn 2023 wurde eine Verwaltungsvorschrift erlassen, die eine transparente Fördersystematik für Präventionsnetzwerke gegen Kinderarmut im Land sicherstellt.8
Für eine Förderung ist dabei wichtig, dass kommunale und zivilgesellschaftliche Akteurinnen und Akteure zusammenarbeiten und auch innerhalb der öffentlichen Verwaltung rund um den Themenkomplex der Kinderarmut ressortübergreifend zusammengearbeitet wird. So soll ein Netzwerk unter Nutzung bereits vorhandener Strukturen entstehen. Dabei ist zunächst grundsätzlich offen, ob sich die Arbeit des Netzwerks auf eine Gemeinde, einen Stadtteil, eine Stadt oder einen ganzen Landkreis bezieht. Bei der Entscheidung für ein Projektgebiet sollte die Sozialstruktur im Blick behalten werden, sodass das Präventionsnetzwerk vor allem dort wirken kann, wo das Risiko der Armutsgefährdung und Benachteiligung junger Menschen besonders hoch ist. Der fokussierte Sozialraum kann sich im Rahmen der Weiterentwicklung eines Präventionsnetzwerks ausdehnen. Präventionsnetzwerke gegen Kinderarmut decken dabei grundsätzlich den biografischen Zeitraum ab der Schwangerschaft beziehungsweise der Geburt bis zum 18. Lebensjahr ab. In der ersten Phase des Aufbaus eines Präventionsnetzwerks kann eine kleinere Altersspanne in den Blick genommen werden, die im weiteren Verlauf ausgedehnt wird.
Das Konzept der Präventionsnetzwerke gegen Kinderarmut
Ziel eines Präventionsnetzwerkes ist die Entwicklung einer integrierten kommunalen Gesamtinfrastruktur gegen Kinderarmut. Diese Struktur soll dazu beitragen, dass alle Kinder und Jugendlichen von 0 bis 18 Jahren, unabhängig ihrer sozialen Herkunft und der familiären finanziellen Situation, gleiche Chancen auf Teilhabe und ein gelingendes Aufwachsen haben. Dies bezieht sich grundsätzlich auf alle Lebensbereiche junger Menschen und umfasst beispielsweise auch Fragen der Teilhabe im kulturellen Bereich beziehungsweise der Freizeitgestaltung, der Bildung, der Wohnsituation oder der Gesundheit. Das Konzept fokussiert mithin die Lebenswelt junger Menschen und wird vom Kind ausgehend gedacht. Häufig gibt es in Kommunen bereits Maßnahmen und Angebote, die ähnliche Ziele verfolgen. Allerdings liegen oft nur unzureichende Strukturen des Austauschs und der systematischen Zusammenarbeit zwischen den für die einzelnen Angebote Verantwortlichen vor. Dies kann dazu führen, dass bestehende Angebote nicht nur Adressatinnen und Adressaten nicht umfassend bekannt sind, sondern auch Fachkräfte nicht über die gesamte Angebotslandschaft informiert sind. In einem solchen Fall kann die komplexe Situation armutsbedrohter junger Menschen und ihrer Familien jedoch kaum ganzheitlich betrachtet und bearbeitet werden.
Präventionsnetzwerke gegen Kinderarmut zielen demgegenüber darauf ab, eine abgestimmte Gesamtinfrastruktur zu schaffen, sodass Angebotslücken geschlossen und hinderliche Doppelstrukturen aufgelöst werden. Dazu sollen vorhandene Netzwerke gebündelt und in der Zusammenarbeit vorhandene Angebote und Strukturen gemeinsam weiterentwickelt werden, wobei die Armutsprävention fokussiert wird. Um ein sinnvoll abgestimmtes Gesamtkonzept zu erarbeiten, ist die Zusammenarbeit zwischen beziehungsweise innerhalb der Kommune und anderen, für die Lebenswelt junger Menschen relevanten Institutionen zentral.
Die Struktur eines Präventionsnetzwerks gegen Kinderarmut stützt sich auf drei zentrale Elemente. Dies ist zum einen die Präventionskette, die alle Unterstützungsangebote entlang des Lebensverlaufs eines jungen Menschen bündelt. Durch die systematische Erhebung vorhandener Angebote und weiterer Bedarfe einerseits sowie die Abbildung bestehender Maßnahmen in einer Präventionskette andererseits ist es möglich, das Angebotsspektrum auf Lücken – insbesondere an den Übergängen – und gegebenenfalls hinderliche Doppelstrukturen hin zu überprüfen. Die Präventionskette kann auch zur weiteren gemeinsamen Planung und Weiterentwicklung der Angebotslandschaft herangezogen werden. Ein Beispiel für die Darstellung einer Präventionskette zeigt die folgende Abbildung.
Die Akteurinnen und Akteure, die in der Lebenswelt junger Menschen relevant sind und über Unterstützungsangebote verfügen, arbeiten in einer Netzwerkgruppe zusammen. In dieser Gruppe sind verschiedene Ressorts, Träger, Institutionen, Professionen und Handlungsebenen vertreten, die eine multiperspektivische Zusammenarbeit ermöglichen. Auch bereits bestehende, kleinteiligere Netzwerke sollen in diesem Rahmen vereint werden, um die Weiterentwicklung des Gesamtangebots umfassend und ganzheitlich bearbeiten zu können. Die Netzwerkgruppe ist dabei als auf Dauer angelegte Struktur des Austauschs und der Zusammenarbeit zu verstehen. Nur so kann sie ihre Wirkung nachhaltig entfalten und zur dauerhaften Teilhabeförderung armutsgefährdeter Kinder und Jugendlicher beitragen.
Dabei sollte es auch eine Person geben, die den Überblick behält und bei der alle Fäden zusammenlaufen: die Netzwerkkoordination. Sie ist beispielsweise auch dafür verantwortlich, die Akteurinnen und Akteure zusammenzubringen, Treffen zu organisieren, fachliche Impulse in die Netzwerkgruppe zu geben und über das Netzwerk hinaus Ansprechperson zur Thematik zu sein.
Präventionsnetzwerke gegen Kinderarmut: eine Bilanz
Eine Bilanzierung der Präventionsnetzwerke gegen Kinderarmut durch die FamilienForschung Baden-Württemberg (FaFo) im Auftrag des Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Integration Baden-Württemberg hat gezeigt, dass diese ein wirkungsvolles Instrument zur Prävention und Bekämpfung von Kinderarmut sind.9 Präventionsnetzwerke gegen Kinderarmut tragen zur Förderung der Teilhabe armutsgefährdeter Kinder und Jugendlicher bei. Der strukturell verankerte, ressortübergreifende und interdisziplinäre Austausch und die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Akteurinnen und Akteuren ermöglichen ein besser verzahntes Gesamtangebot. Es entstehen kürzere Kommunikationswege, das gegenseitige Verständnis wird vertieft, eine gemeinsame Sprache, Zielvorstellung und Herangehensweise kann entwickelt werden, sodass sich eine wirksame Armutsprävention entfalten kann. Im Vergleich zu einzelnen Angeboten ist die gemeinsame Strategieentwicklung ein Qualitätsgewinn. Vorhandene Präventions- und Unterstützungsangebote können aufeinander abgestimmt und somit komplexe Lebenslagen von Familien umfassender bearbeitet werden.
Darüber hinaus können Präventionsnetzwerke gegen Kinderarmut vorhandene Angebote auch bekannter machen, einerseits unter Fach- und Führungskräften entsprechender Institutionen, andererseits auch unter den Adressatinnen und Adressaten beziehungsweise in der Öffentlichkeit. Ein weiterer Mehrwert der Präventionsnetzwerke ist, dass Armutsprävention einen erhöhten Stellenwert auf der kommunalen Agenda erhält und fokussiert bearbeitet werden kann. Über die Landesförderung kann darüber hinaus zusätzliches Personal gewonnen werden, welches Vernetzungsstrukturen und -prozesse koordiniert, fachliche Impulse einbringt und die Erstellung einer lückenlosen Präventionskette begleitet.
Inhaltlich konnten Präventionsnetzwerke gegen Kinderarmut in Baden-Württemberg bereits vielfältige Themen bearbeiten und in ihrer Relevanz vor Ort stärken. Dazu gehören beispielsweise die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, die Themen Armutssensibilität und Kinderrechte, die Fortbildung von Fachkräften und die Teilhabe armutsbedrohter junger Menschen in verschiedenen Lebensbereichen. Zu den konkreten Angeboten, die Präventionsnetzwerke gegen Kinderarmut in Baden-Württemberg bereits ins Leben gerufen haben, gehören Ermäßigungen im Freizeitbereich, Lotsensysteme, niedrigschwellige Informationsangebote, individuelle Lernförderung, muttersprachliche Ansprechpersonen, Kochprojekte sowie Podcasts und Veröffentlichungen im Bereich der Armutssensibilität.
Angebote der FamilienForschung Baden-Württemberg
Die FamilienForschung Baden-Württemberg wurde vom Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration Baden-Württemberg mit der Beratung und Begleitung der Präventionsnetzwerke gegen Kinderarmut beauftragt. Damit stellt sie nicht nur regelmäßig Daten zum Thema bereit, sondern leistet im Sinne einer nachhaltigen Gesellschaftsentwicklung auch einen aktiven Beitrag zur Prävention und Bekämpfung von Kinderarmut. Ihr Angebot gliedert sich in zwei Bereiche: einerseits die Beratung und Information und andererseits die Qualifizierung und Vernetzung der Präventionsnetzwerke gegen Kinderarmut in Baden-Württemberg.
Zum Bereich der Beratung und Information gehört, dass interessierte Kommunen im Vorfeld einer Förderantragstellung beraten werden können. Für neu geförderte Präventionsnetzwerke gibt es eine Kick-Off-Veranstaltung und individuelle Kennenlerngespräche vor Ort, die die Netzwerke bei der Aufnahme ihrer Arbeit unterstützen. Nach einem Förderjahr wird ein Reflexionsgespräch angeboten. Auch unabhängig des Förderzeitraums steht die FaFo zur Beratung und fachlichen Begleitung der Netzwerke zur Verfügung. Informationen zu aktuellen Meldungen, Hinweise zu Veranstaltungen und Veröffentlichungen enthalten die Netzwerkkoordinierenden monatlich über einen Newsletter. Darüber hinaus steht mit der Website www.starkekinder-bw.de eine zentrale Informationsplattform zur Verfügung, die alle wichtigen Hinweise für die Präventionsnetzwerke bereitstellt.
Zum Bereich Qualifizierung und Vernetzung gehört, dass Koordinierende neuer Präventionsnetzwerke gegen Kinderarmut eine Einstiegsqualifizierung erhalten, die sie mit den wichtigsten Grundlagen für ihre Arbeit ausstattet. Fachliche Impulse zu unterschiedlichen, relevanten Themen können die Netzwerkkoordinierenden in zweimal jährlich digital stattfindenden Fachgesprächen diskutieren. Dem Austausch, der Vernetzung und der Gewinnung neuer Ideen und Erkenntnisse dienen auch die zweimal jährlich stattfindenden Vernetzungstreffen. Darüber hinaus gibt es jährlich die Möglichkeit, die Arbeit eines Präventionsnetzwerks im Rahmen einer Exkursion genauer kennenzulernen. Der kollegiale Erfahrungsaustausch und die gegenseitige Beratung werden außerdem durch einen Expertisepool sowie durch ein vierteljährlich stattfindendes, digitales, offenes Austauschformat für die Netzwerkkoordinierenden gefördert. Damit steht den Präventionsnetzwerken gegen Kinderarmut, neben der finanziellen Förderung durch das Land, auch inhaltlich ein breites Unterstützungsangebot zur Verfügung.
Weitere Informationen zur Landesförderung, dem Konzept und den Standorten der Präventionsnetzwerke gegen Kinderarmut in Baden-Württemberg finden sich auf der zentralen Informationsplattform www.starkekinder-bw.de sowie auf Anfrage unter Praeventionsnetzwerke@stala.bwl.de.