Pflege in Baden-Württemberg – Heute und Morgen
Vorausrechnung der Zahl der Pflegebedürftigen sowie des benötigten Pflegepersonals
Der Pflegebereich steht in der Zukunft vor großen Herausforderungen. Dies zeichnet sich vor dem Hintergrund des demografischen Wandels in Baden-Württemberg und einer zunehmenden Alterung der Bevölkerung, sich verändernder gesellschaftlicher Determinanten der pflegerischen Versorgung dieser Menschen sowie einem steigenden Bedarf an Pflegepersonal bereits heute ab. Das Statistische Landesamt hat daher in einer neuen Modellrechnung die Zahl der Pflegebedürftigen nach Geschlecht und Pflegeart sowie das entsprechend notwendige Pflegepersonal bis 2030 bzw. 2050 auf Basis der Ergebnisse der Pflegestatistik von 2013 vorausberechnet. Unter der Voraussetzung, dass sich das Pflegerisiko für die einzelnen Altersjahre nicht wesentlich verändert, könnte die Zahl der Pflegebedürftigen allein aus demografischen Gründen von heute 298 769 auf rund 402 000 Menschen im Jahr 2030 zunehmen. Dies wäre ein Anstieg um 35 %. Bis zum Jahr 2050 könnte die Zahl pflegebedürftiger Menschen sogar um 93 % steigen. Um den vorausberechneten Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen zu bewältigen, würden bis 2030 etwa 51 000 und bis 2050 rund 141 000 zusätzliche Pflegekräfte benötigt.
Immer mehr ältere Menschen
In Baden-Württemberg lebten Ende 2014 rund 2,1 Mill. Menschen, die 65 Jahre oder älter sind. Die aktuelle Bevölkerungsvorausrechnung des Statistischen Landesamtes geht davon aus, dass sich bis zum Jahr 2030 die Zahl der Menschen im Alter von 65 und mehr Jahren nochmals um rund 600 000 oder annähernd 30 % erhöhen könnte. Der Anteil dieser Altersgruppe an der Gesamtbevölkerung wird dadurch von zurzeit rund 20 % auf voraussichtlich knapp 25 % ansteigen.
Die Entwicklung hin zu einer im Schnitt immer älteren Bevölkerung ist bereits heute abzusehen, weil insbesondere nach 2020 die geburtenstarken Jahrgänge aus den 1960er-Jahren in die Altersphase der 60-Jährigen und älteren hineinwachsen. Bereits von 1950 bis zum Jahr 2014 ist das Durchschnittsalter der Bevölkerung um rund 9 Jahre gestiegen – von etwa 34 Jahre auf 43 Jahre. Und dieser Alterungsprozess wird sich in Zukunft fortsetzen. Bis zum Jahr 2050 ist mit einem weiteren Anstieg des Durchschnittsalters um 4 Jahre auf dann 47 Jahre zu rechnen. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass die hohe Zuwanderung in Baden-Württemberg einen dämpfenden Einfluss auf die Alterung der Gesellschaft hat und auch künftig haben wird.
Neben der Altersstruktur der Bevölkerung ist aber auch die stetig steigende Lebenserwartung für die Entwicklung hin zu immer mehr älteren Menschen maßgeblich. Ein neugeborener Junge kann heute in Baden Württemberg auf eine durchschnittliche Lebenserwartung von gut 79 Jahren hoffen, ein neugeborenes Mädchen sogar auf knapp 84 Jahre. Damit liegt die Lebenserwartung Neugeborener um etwas mehr als 9 Jahre bei den Frauen bzw. um knapp 11 Jahre bei den Männern höher als Anfang der 1970er-Jahre. Bis zum Jahr 2030 wird nochmals von einem Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung um etwa 2 Jahre ausgegangen.
In Zukunft wird vor allem auch die Zahl hoch betagter Menschen, das heißt 85-Jährige und ältere, deutlich ansteigen. Bis Anfang 2030 dürfte sich ihre Zahl von rund 273 000 im Jahr 2014 auf rund 410 000 erhöhen. Bereits 2 Jahrzehnte später läge ihre Zahl im Vergleich zu heute sogar mehr als zweieinhalbmal so hoch. Dann wären rund 721 000 Einwohner des Landes 85 Jahre oder älter. Auch wenn Alter nicht automatisch mit Krankheit und Pflegebedürftigkeit gleichgesetzt werden kann, handelt es sich hierbei doch um eine Bevölkerungsgruppe mit einem hohen Erkrankungs- und Pflegebedürftigkeitsrisiko, sodass künftig auch die Zahl der Pflegebedürftigen erheblich ansteigen dürfte.
Pflege als gesamtgesellschaftliche Herausforderung
Um die Pflegesituation in Baden-Württemberg darzustellen und überprüfen zu können, wie vorhandene Rahmenbedingungen verändert und welche Impulse gegeben werden müssen, um eine qualitativ hochwertige Pflege im Land dauerhaft gewährleisten zu können, hatte der Landtag von Baden-Württemberg im März 2014 eine Enquetekommission »Pflege in Baden-Württemberg zukunftsorientiert und generationengerecht gestalten« eingesetzt. Im Januar 2016 legte diese Kommission nun ihren Abschussbericht vor. Mehr als 600 Handlungsempfehlungen, die dieser Bericht enthält, sollen dazu beitragen, die Pflege in Baden-Württemberg zukunftsfähig zu machen und generationengerecht zu gestalten.
Die Enquetekommission sieht im Thema Pflege eine der großen gesellschafts- und sozialpolitischen Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte, deren Bedeutung weit über einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff und eine Weiterentwicklung der Pflegeversicherung hinaus reicht. »Es geht um die kulturelle Frage, wie mit Themen der Verletzlichkeit des Menschen, mit der Verteilung von Sorgeaufgaben zwischen Generationen und im Geschlechterverhältnis, zwischen Staat und Gesellschaft umgegangen wird. Unsere Gesellschaft verändert sich, also muss sich auch Pflege weiterentwickeln. Es bedarf innovativer Denkansätze. Es gilt, die Aufgabe der Pflege und Sorge breit in unserer Gesellschaft zu verankern, neue Akteure zu gewinnen und zukunftsfähige Angebote zu entwickeln.«1
Vor dem Hintergrund dieser Herausforderungen und Handlungsempfehlungen an die Pflegebedingungen im Land soll ein Blick auf die Szenarien der heutigen, vor allem aber der zukünftigen Situation der Pflegebedürftigen und des Pflegepersonals aus Sicht der amtlichen Statistik geworfen werfen.
Rückblick: Pflegebedürftigkeit 1999 bis 2013
Im Dezember 2013 waren in Baden-Württemberg 298 769 Personen pflegebedürftig im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes. Seit Durchführung der Statistik im Jahre 1999 hat sich die Zahl der Pflegebedürftigen im Land stetig erhöht und bis 2013 um 41,7 % oder 87 932 Personen zugenommen. Unter allen Bundesländern weist Baden-Württemberg mit 2,81 % nach Bayern (2,61 %) die geringste Pflegequote auf. 1999 lag sie noch bei 2,01 %.
Ende 2013 waren über vier Fünftel (82,7 %) der Pflegebedürftigen 65 Jahre und älter, mehr als die Hälfte (57 %) war sogar 80 Jahre und älter. Knapp zwei Drittel der Pflegebedürftigen (64,1 % oder 191 595) waren Frauen. Fast ein Drittel (30,4 %) oder 90 845 aller Pflegebedürftigen wurden vollstationär in Heimen versorgt. Über zwei Drittel (69,6 %) oder 207 924 sind zu Hause gepflegt worden, darunter 144 593 Pflegegeldempfänger (48,4 %), die ausschließlich von Angehörigen gepflegt wurden. Im langfristigen Zeitvergleich zu 1999 zeigt sich hier eine generelle Entwicklung zu mehr professioneller Pflege in Pflegeheimen (+ 38,6 %) und durch ambulante Pflegedienste (+ 49,3 %).
Bis 2030 gut ein Drittel mehr Pflegebedürftige
Unter der Voraussetzung, dass sich das Pflegerisiko für die einzelnen Altersjahre in Zukunft nicht wesentlich verändert, könnte die Zahl der Pflegebedürftigen in Baden-Württemberg allein aus demografischen Gründen von heute 298 769 um ca. 103 000 zunehmen und im Jahr 2030 auf rund 402 000 Menschen anwachsen. Dies wäre ein Anstieg um 35 % oder gut einem Drittel. Bis zum Jahr 2050 könnte die Zahl pflegebedürftiger Menschen sogar um 93 % zunehmen, das heißt sich fast verdoppeln und damit um fast 279 000 Personen auf rund 578 000 Pflegebedürftige steigen. Im Jahr 2030 ergäbe sich dann eine Pflegequote von 3,61 %, für 2050 von 5,28 %. Die Zahl der pflegebedürftigen Frauen würde sich dabei bis 2030 auf rund 252 000 um 31 % oder rund 60 000 erhöhen, während die Zahl der männlichen Pflegebedürftigen um 40 % oder rund 43 000 auf dann 150 000 zunehmen könnte. Bis zum Jahr 2050 dürfte sich die Zahl männlicher Pflegebedürftiger sogar auf rund 217 000 verdoppeln (+ 103 %). Die Zunahme bei den Frauen läge hingegen bei 88 % auf dann rund 361 000 Pflegebedürftige.
Der Trend hin zur professionellen Pflege in Pflegeheimen und zur Pflege durch ambulante Pflegedienste dürfte sich auch in die Zukunft fortsetzen. Je nach Pflegeart fällt die jeweilige Zunahme bei der Zahl der Pflegebedürftigen allerdings unterschiedlich aus. Die Zahl der vollstationär Gepflegten könnte bis 2030 auf rund 130 000 steigen, das heißt um 43 %, die Zahl der ambulant Gepflegten auf 88 000 und damit um 39 % und die der Pflegegeldempfänger, also der Menschen, die ausschließlich durch ihre Angehörigen versorgt werden, auf rund 185 000, das heißt um 28 %. Bis zum Jahr 2050 würde sich im Vergleich zu heute die Zahl der stationär sowie die der ambulant Gepflegten sogar mehr als verdoppeln (auf rund 198 000 bzw. 132 000 Personen). Die Zahl der Pflegegeldempfänger würde sich hingegen um knapp drei Viertel auf rund 248 000 erhöhen.
Im Vergleich zu den von Angehörigen gepflegten Pflegegeldempfängern steigt die Zahl der ambulant und stationär Gepflegten vergleichsweise stärker an. Dies erklärt sich allein schon daraus, dass die Zahl der pflegeintensiveren älteren Jahrgänge stärker zunehmen wird als die Zahl der sogenannten »jungen Alten.« Wurden 2013 noch 48,4 % aller Pflegebedürftigen zu Hause von ihren Angehörigen gepflegt, könnte dieser Anteil bis 2030 auf 46 % bzw. 43 % im Jahr 2050 sinken. Der Anteil der vollstationär gepflegten Menschen würde dagegen nach der Modellrechnung von 30,4 % auf 32 % bzw. 34 % ansteigen, der Anteil der Pflegebedürftigen im ambulanten Bereich von heute 21,2 % auf 22 % bzw. 23 %.
Bedarf an Pflegekräften wird zunehmen
Für die Versorgung der 154 176 Pflegebedürftigen in den stationären und ambulanten Pflegeeinrichtungen Baden-Württembergs standen zum Jahresende 2013 landesweit 122 420 Beschäftigte zur Verfügung. Darunter waren 31 699 Personen in Vollzeit beschäftigt und 79 817 Personen in Teilzeit. Die restlichen 10 904 Beschäftigten verteilten sich auf Auszubildende, (Um-)Schüler, Helferinnen und Helfer im freiwilligen sozialen Jahr und im Bundesfreiwilligendienst sowie Praktikanten außerhalb einer Ausbildung. Die stationären Einrichtungen beschäftigten insgesamt 90 597 Personen und die ambulanten Einrichtungen 31 823. Der Anteil der Frauen am Personal insgesamt betrug 86 %.
Ausgehend von der Zahl der hochgerechneten Pflegebedürftigen, die von ambulanten und stationären Einrichtungen versorgt werden, kann auch auf den zukünftigen Bedarf an Pflegekräften geschlossen werden. Dabei wird angenommen, dass sich das Verhältnis von Pflegebedürftigen zu Pflegepersonen bis 2030 bzw. 2050 nicht wesentlich ändert. Dann würde sich bis 2030 der Bedarf an Pflegekräften und sonstigem Pflegepersonal von 122 420 Personen im Jahr 2013 um 42 % erhöhen und läge 2030 bei insgesamt rund 173 000 Personen. Bis 2050 würde sich die Zahl der benötigten Pflegekräfte mehr als verdoppeln (+ 115 %) auf dann insgesamt rund 264 000 Personen. Der zusätzliche Bedarf an professionellen Pflegekräften könnte somit bei fast 51 000 Personen bis 2030 liegen bzw. bei rund 141 000 bis 2050.
Im Bereich der stationären Pflege würde die Zahl der Pflegekräfte bis 2030 um 43 % auf rund 129 000 Personen zunehmen (+ 39 000 Personen), bis 2050 auf 197 000 Personen, das heißt um 118 % (+ 107 000 Personen). Für das Pflegepersonal in Einrichtungen der ambulanten Pflege könnte sich bis 2030 eine Zunahme von 38 % ergeben, das heißt um 12 000 Personen auf rund 44 000, bis 2050 sogar um 108 % um 34 000 auf rund 66 000 Personen.
Derzeit hat fast ein Viertel aller Beschäftigten in den stationären und ambulanten Pflegeeinrichtungen des Landes einen Berufsabschluss als staatlich anerkannte Altenpflegerin bzw. Altenpfleger. Projiziert man diesen Anteil in das Jahr 2030, so würde das bedeuten, dass sich – unter Status-Quo-Bedingungen – allein der Bedarf an Absolventen dieser Berufssparte von 29 464 Personen im Jahr 2013 um 40 % auf ca. 42 000 im Jahr 2030 erhöhen würde. Bis zum Jahr 2050 könnte sich die Zahl der benötigten Altenpflegerinnen und Altenpfleger sogar auf rund 63 000 mehr als verdoppeln. Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass es sich bei dieser Rechnung um eine Projektion der reinen »Kopfzahlen« handelt, das heißt die Verteilung von Voll- und Teilzeitarbeitskräften und deren mögliche Auswirkungen werden nicht berücksichtigt.
Unsicher ist die Entwicklung der Zahl der Pflegegeldempfänger, also der Menschen, die zu Hause von ihren Angehörigen gepflegt werden. Durch die sich ändernden gesellschaftlichen und familiären Bedingungen ist davon auszugehen, dass das häusliche Pflegepotential weiter abnimmt. Aufgrund der demografischen Entwicklung, aber auch aufgrund zunehmender gesellschaftlicher Mobilität und höherer Erwerbsbeteiligung von Frauen ist damit zu rechnen, dass das notwendige private Pflegepotenzial wie Partnerinnen oder Partner bzw. Kinder oder Schwiegerkinder immer seltener für die häusliche Pflege zur Verfügung stehen wird. Auch hierdurch wird die professionelle Pflege stärker zunehmen und damit der dafür notwendige Personalbedarf.
Ein wesentliches Ziel für die Zukunft muss daher sein, den künftigen Bedarf an Fachkräften in der Pflege sicherzustellen. Es gilt, mehr Menschen für eine Ausbildung in der Pflege zu begeistern, Schulabgänger ebenso wie Quer- oder Wiedereinsteiger in den Beruf. Wenn nicht mehr Menschen für einen Pflegeberuf gewonnen werden können oder ausgebildete Pflegekräfte diesen nicht vorzeitig wieder verlassen, ist – trotz steigender Ausbildungszahlen im Bereich Altenpflege – ein Fachkräftemangel absehbar. Zwar bietet der demografische Wandel auch Chancen, denn mehr ältere Menschen können sich aktiv in die Gesellschaft einbringen. Das bürgerschaftliche Engagement bietet hierzu ein breites Betätigungsfeld, gerade auch in der Pflege. Das bedeutet aber auch, dass die familiäre, die professionelle sowie die Pflege durch bürgerschaftlich Engagierte mehr Anerkennung, Respekt und Wertschätzung erfahren müssen. Der gesellschaftliche Stellenwert von Pflege muss verbessert werden.2