Erstmals Statistik zur Einschätzung der Kindeswohlgefährdung im Jahr 2012
Am 1. Januar 2012 trat das neue Kinderschutzgesetz1 in Kraft, mit dem nicht zuletzt in der Folge einiger besonders gravierender Fälle von Kindeswohlgefährdung der Schutz der Kinder deutlich verbessert werden soll. Zentrale Neuregelung des Gesetzes war die Neufassung des § 8a des Achten Buches Sozialgesetzbuch »Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung«. Außerdem wurde in § 98 Abs. 1 Nr. 13 SGB VIII eine neue Statistik zur Kindeswohlgefährdung angeordnet, um eine bessere Datengrundlage für einen aktiven Kinderschutz zu gewährleisten. Im Juli 2013 lagen erstmals Ergebnisse dieser neuen Statistik für Baden‑Württemberg vor. Insgesamt wurden im Jahr 2012 fast 10 000 Verfahren zur Einschätzung der Kindeswohlgefährdung durchgeführt.
Gefährdungseinschätzung: eine wichtige Aufgabe der Jugendämter
Durch die Neufassung des § 8a SGB VIII wurde der Schutzauftrag der Kinder- und Jugendhilfe gestärkt.2 Werden einem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen bekannt, ist es nach § 8a SGB VIII seine Aufgabe, das Gefährdungsrisiko für diesen jungen Menschen einzuschätzen. Die zuständigen Mitarbeiter des Jugendamtes haben sich dabei einen unmittelbaren Eindruck vom betroffenen Kind oder Jugendlichen und seiner persönlichen Umgebung zu machen. Dies kann zum Beispiel durch einen Hausbesuch3, den Besuch der Kindertageseinrichtung oder Schule oder die Einbestellung der Eltern ins Jugendamt geschehen. Die Einschätzung des Gefährdungsrisikos erfolgt schließlich im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte. Ergebnis der Gefährdungseinschätzung kann sein:
- Akute Kindeswohlgefährdung,
- latente Kindeswohlgefährdung,
- keine Kindeswohlgefährdung, aber Hilfe- oder Unterstützungsbedarf und
- keine Kindeswohlgefährdung und kein Hilfe- oder Unterstützungsbedarf.
Das Jugendamt bezieht bei der Einschätzung des Gefährdungsrisikos die Erziehungsberechtigten sowie das Kind mit ein. Sollte allerdings dadurch der wirksame Schutz des betroffenen Kindes oder Jugendlichen in Frage gestellt werden, führt das Jugendamt die Gefährdungseinschätzung ohne diese Beteiligung durch. In diesen Fällen wird häufig eine Anrufung des Familiengerichts notwendig.
Wenn es zur Abwendung der Gefährdung für geeignet und notwendig erachtet wird, Hilfen zu gewähren, so muss das Jugendamt diese den Erziehungsberechtigten anbieten. Es gibt aber auch Fälle, in denen das Jugendamt das Tätigwerden des Familiengerichts für erforderlich hält. Dann hat es das Gericht anzurufen. Besteht eine dringende Gefahr und kann die Entscheidung des Gerichts nicht abgewartet werden, so ist das Jugendamt verpflichtet, das Kind oder den Jugendlichen in Obhut zu nehmen.
Die neue Statistik der Gefährdungseinschätzungen
Über die Verfahren zur Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung nach § 8a SGB VIII führt das Statistische Landesamt Baden‑Württemberg seit dem Jahr 2012 bei den Jugendämtern jährlich eine Totalerhebung durch. Mit der Befragung sollen umfassende und zuverlässige statistische Daten über die Wahrnehmung des Schutzauftrages bei Kindeswohlgefährdung und über die Situation der betroffenen Kinder und Jugendlichen sowie über die eingeleiteten Hilfen im Falle einer Kindeswohlgefährdung bereitgestellt werden.
Die Ergebnisse dienen der Planung im örtlichen und überörtlichen Bereich. Sie ermöglichen es, die Auswirkungen des § 8a SGB VIII für einen wirksamen Kinderschutz durch die Kinder- und Jugendhilfe zu beobachten. Auch zur Beantwortung von aktuellen jugend- und familienpolitischen Fragestellungen und zur Weiterentwicklung des Kinder- und Jugendhilferechts werden die Daten herangezogen.4
9 630 Verfahren zur Gefährdungseinschätzung im Jahr 2012
Im Jahr 2012 wurde in Baden‑Württemberg für 9 630 Kinder und Jugendliche ein Verfahren zur Gefährdungseinschätzung nach § 8a Abs. 1 SGB VIII vorgenommen. Bei 1 498 Gefährdungseinschätzungen, das sind 16 % aller Verfahren, wurde eine akute Gefährdungssituation festgestellt. In diesen Fällen ist eine erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes oder Jugendlichen bereits eingetreten oder mit ziemlicher Sicherheit zu erwarten. Dabei wurden bei 975 jungen Menschen Anzeichen für Vernachlässigung festgestellt. Bei weiteren 438 Kindern und Jugendlichen gab es Anzeichen für körperliche und bei 374 für psychische Misshandlung. Hinweise auf sexuelle Gewalt wurden bei 97 Kindern und Jugendlichen festgestellt. Mehrfachnennungen sind möglich.
In 1 965 Fällen (20 %) lag eine sogenannte latente Kindeswohlgefährdung vor. Dabei konnte die Frage nach der tatsächlich bestehenden Gefahr nicht eindeutig beantwortet werden. Es bestand jedoch weiterhin der Verdacht einer Kindeswohlgefährdung bzw. eine solche konnte nicht ausgeschlossen werden. Bei 3 278 Gefährdungseinschätzungen (34 %) ergab sich zwar keine Kindeswohlgefährdung, wohl aber ein anderweitiger Unterstützungsbedarf. Bei 30 % der Gefährdungseinschätzungen (2 889 Verfahren) wurden keine Gefährdung und kein weiterer Hilfebedarf ermittelt.
Mädchen und Jungen sind gleichermaßen betroffen
Insgesamt betrafen die Gefährdungseinschätzungen fast ebenso viele Mädchen (4 757) wie Jungen (4 873). Während allerdings in den Altersgruppen mit Kindern unter 14 Jahren stets für etwas mehr Jungen als Mädchen Gefährdungseinschätzungen vorgenommen werden mussten, war dies bei den Jugendlichen im Alter von 14 bis unter 18 Jahren umgekehrt. Hier waren mit 829 Fällen deutlich mehr Mädchen betroffen als Jungen (508 Fälle).
Bei jüngeren Kindern werden relativ mehr Gefährdungseinschätzungen durchgeführt
Im Durchschnitt kamen in Baden‑Württemberg auf 1 000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren 5,2 Gefährdungseinschätzungen. Je niedriger jedoch das Alter der Kinder und Jugendlichen ist, umso höher liegt diese Quote. Bei den Kindern, die das 1. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, wurde für rund zehn von 1 000 Kindern eine Gefährdungseinschätzung vorgenommen, bei Kindern im Alter von 1 oder 2 Jahren waren es gut sieben von 1 000 Kinder. Mit steigendem Alter nahm die Quote weiter ab und lag in der Altersgruppe der 14- bis unter 18‑Jährigen noch bei knapp drei von 1 000.
Bei den jüngsten und jüngeren Kindern wurde überwiegend Vernachlässigung als Art der Kindeswohlgefährdung festgestellt. Etwa ab einem Alter von 10 Jahren lagen körperliche und psychische Misshandlung genauso oft wie Vernachlässigung vor. Sexueller Gewalt waren insbesondere Kinder im Alter von 5 bis 15 Jahren ausgesetzt. Die Art der Kindeswohlgefährdung ist immer dann anzugeben, wenn die Gesamtbewertung der Gefährdungseinschätzung eine akute oder latente Kindeswohlgefährdung ergeben hat. Hierbei sind Mehrfachnennungen möglich.
Vielfältige Hinweise auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung
Hinweise auf mögliche Gefährdungen kommen von verschiedensten Personen und Institutionen. So wurde zum Beispiel in 1 635 aller Fälle (17 %) das Jugendamt von Nachbarn oder Bekannten des betroffenen Kindes oder Jugendlichen über die mögliche Gefährdung informiert, in weiteren 1 520 Fällen (16 %) durch die Polizei, Gerichte oder die Staatsanwaltschaft. In jeweils 9 % der Fälle kam der Hinweis von anonymen Meldern (839) oder aus Schulen (824), in 8 % (772) von Eltern oder Personensorgeberechtigten. Jeweils 7 % der Fälle gehen auf Meldungen der Sozialen Dienste bzw. der Jugendämter selbst (693) sowie des medizinischen Bereichs, also beispielsweise Hebammen, Ärzte, Kliniken oder Gesundheitsämter (652) zurück.
Betrachtet man dabei allerdings nur die Verfahren mit dem Ergebnis einer akuten oder latenten Kindeswohlgefährdung, so zeigt sich, dass hier der Anteil der Nachbarn und Bekannten deutlich niedriger liegt als bei den Verfahren insgesamt, nämlich bei nur 10 %, während der Anteil der Sozialen Dienste bzw. Jugendämter in diesen Fällen deutlich höher ausfällt (11 % gegenüber 7 % bei den Verfahren insgesamt).
Welche Maßnahmen werden ergriffen?
Als Ergebnis der Gefährdungseinschätzungen wurden zahlreiche Hilfen neu eingerichtet. Dabei können für ein Kind auch mehrere Hilfen in Frage kommen. In 2 006 Fällen wurden ambulante oder teilstationäre Hilfen zur Erziehung neu eingerichtet. Unterstützung nach §§ 16 bis 18 SGB VIII, wie zum Beispiel Leistungen zur allgemeinen Förderung der Erziehung in der Familie und Beratung in Fragen der Partnerschaft, Trennung oder Scheidung, wurde als Folge von 1 133 Gefährdungseinschätzungen gewährt. 492 Kinder oder Jugendliche wurden im Rahmen vorläufiger Schutzmaßnahmen in Obhut genommen. In 454 Fällen wurden familienersetzende Hilfen zur Erziehung (§§ 27, 33–35 SGB VIII) eingeleitet, in weiteren 404 Fällen Erziehungsberatung nach § 28 SGB VIII.
In 952 Fällen hielten die Jugendämter das Tätigwerden eines Familiengerichtes für erforderlich. Notwendig wird dies dann, wenn die Eltern nicht bereit oder in der Lage sind, die Gefahr für das Kind abzuwenden, indem sie zum Beispiel angebotene Hilfen ablehnen. Wenn die Gefährdung nicht ohne Eingriff in das elterliche Sorgerecht abgewendet werden kann, wird eine Anrufung des Familiengerichts notwendig.
Ein Blick in die Kreise
Zur Einschätzung der Kindeswohlgefährdung wurden 2012 landesweit rund fünf Verfahren je 1 000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren durchgeführt. Regional gibt es deutliche Unterschiede. Während im Landkreis Tübingen nur knapp ein Verfahren je 1 000 Kinder durchgeführt wurde, waren es im Stadtkreis Mannheim 17,6 Verfahren je 1 000 Kinder. Insgesamt zehn Landkreise wiesen eine entsprechende Quote von weniger als zwei auf, weitere 13 Kreise von zwei bis unter fünf. In weiteren elf Kreisen wurden fünf bzw. sechs Verfahren je 1 000 Kinder durchgeführt. Damit lag bei drei Vierteln der Kreise die Zahl der Verfahren je 1 000 Kinder bei unter sechs. In den restlichen Kreisen fiel die Quote zum Teil deutlich höher aus. Insbesondere in den Stadtkreisen Mannheim (17,6), Karlsruhe (17,3) und Heilbronn (16,7) wurden deutlich mehr Verfahren zur Kindeswohlgefährdung durchgeführt als im Landesdurchschnitt.
Der unterschiedlichen Zahl an Gefährdungseinschätzungen in den Kreisen können allerdings vielfältige Ursachen zugrunde liegen. So können Unterschiede in der Sozialstruktur, in der Arbeitsweise der Sozialen Dienste, aber auch die unterschiedliche Vernetzung von Agenturen des Bildungs-, Sozial-, und Gesundheitswesens Einfluss auf die Häufigkeit von Gefährdungseinschätzungen haben.5 Im Übrigen ist es auch möglich, dass im ersten Durchführungsjahr der Erhebung unterschiedliche Anlaufschwierigkeiten vor Ort vorgelegen haben. Mit zunehmender Erfahrung ist bei den Folgeerhebungen daher von einer gewissen Stabilisierung der Ergebnisse auszugehen.