:: 8/2007

Standpunkt: Was ist daran geheim?

»Punkt, Punkt, drei, vier, fünf …« könnte die Zählweise eines Kindes sein, dessen Vater oder Mutter Statistiker sind. Den Zahlen »1« und »2« haftet in statistischen Tabellen scheinbar etwas Geheimnisvolles an, denn statt ihrer steht häufig ein Punkt – das Zeichen für »Geheimhaltung«. Das war nicht immer so. Frühere Statistiker haben sich nicht zu sagen gescheut, dass in Irrendorf1 auf dem Heuberg im Jahr 1861 ein »Blödsinniger« lebte2 und im »Statistischen Handbuch Baden-Württemberg« von 1955 ist nachzulesen, dass es 1950 in Baden-Württemberg eine 26-jährige Frau gab, die bereits neun Kinder zur Welt gebracht hat. Andererseits findet der Leser im selben Handbuch keinerlei weitere Angaben über die einzige, dort genannte baden-württembergische »Brauerei oder Mälzerei«, die 1953 von einem Vertriebenen oder Flüchtling betrieben wurde.

Heute sind manche Tabellen mit (Geheimhaltungs-)Punkten geradezu übersät. Die amtliche Statistik ist seit Jahrzehnten bestrebt, keinen Vertrauensbruch gegenüber den Auskunftspflichtigen zu begehen. Seit einiger Zeit scheint sie aber, aus der Sicht des Verfassers, bei der Umsetzung der vom Gesetzgeber und von ihr selbst gesetzten Ansprüche über das Ziel hinauszuschießen.

Nach Georges Als, dem ehemaligen Leiter des Statistischen Amtes von Luxemburg, verfügt die amtliche Statistik kaum über wirkliche Geheimnisse. Sie hat kaum Einblick in die Unternehmen, da sie von Interna, wie Auftragslage, Investitionen, Warenbeständen erst so spät erfährt, dass die Daten längst überholt sind, wenn sie veröffentlicht werden. Des Weiteren bezweifelt Als, ob Daten wie Schulabschluss, Krankenhausaufenthalt oder gerichtliche Urteile überhaupt brisant seien. Die im Zusammenhang mit der Volkszählung von 1987 hochgespielte Datenschutzdiskussion bezeichnet er als eine »Revolution des Nihilismus«3. Nüchtern betrachtet hat Als, wenn er als erfahrener Statistiker und ausgewiesener Kenner des europäischen Statistiksystems die deutschen Verhältnisse bewertet, zweifellos recht, aber dennoch bemüht sich die amtliche Statistik der Bundesrepublik Deutschland, auch den geringsten Anschein eines Vertrauensbruchs zu vermeiden, denn »die Geheimhaltung der statistischen Einzelangaben ist seit jeher das Fundament der Bundesstatistik«. Ihre Gewährleistung dient, wie bereits in der Begründung zum Bundesstatistikgesetz von 1980 ausgeführt worden ist, folgenden Zielen:

  • Schutz des Einzelnen vor der Offenlegung seiner persönlichen und sachlichen Verhältnisse,
  • Erhaltung des Vertrauensverhältnisses zwischen Befragten und den statistischen Ämtern,
  • Gewährleistung der Zuverlässigkeit der Angaben und der Berichtswilligkeit der Befragten4.

Das Dilemma der Geheimhaltung

Der § 16 des Bundesstatistikgesetzes aus dem Jahr 1987 regelt recht genau die Übermittlung von Einzelangaben an Verwaltung und Wissenschaft. Zur eigentlichen hier interessierenden Geheimhaltung findet sich im Gesetz aber nur die lapidare Aussage »Einzelangaben über persönliche und sachliche Verhältnisse, die für eine Bundesstatistik gemacht werden, sind von den Amtsträgern und für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten, die mit der Durchführung von Bundesstatistiken betraut sind, geheim zu halten, soweit durch Rechtsvorschrift nichts anderes bestimmt ist.« Und weiter im Absatz 4 desselben Paragrafen: »Für die Verwendung gegenüber den gesetzgebenden Körperschaften und für Zwecke der Planung, jedoch nicht für die Regelung von Einzelfällen, dürfen den obersten Bundes- und Landesbehörden … Tabellen … übermittelt werden, auch soweit Tabellenfelder nur einen einzigen Fall ausweisen«. Dem damaligen Bundesbeauftragten für den Datenschutz Hans Peter Bull war dieser Satz unverständlich. Er fragte während einer Anhörung vor dem Innenausschuss des Bundestages »warum an dieser Stelle mit dem Begriff der Tabellen, auch soweit Tabellenfelder nur einen einzigen Fall ausweisen, gearbeitet werde, der ansonsten im gesamten Gesetz nicht auftauche. Dies mache die Regelung noch schwerer verständlich, als sie ohnehin schon sei5«.

Bull kann nur zugestimmt werden. Deshalb sollen einige »konstruierte« Beispiele verdeutlichen, in welches Dilemma die amtliche Statistik bei der Herausgabe von Daten manchmal gerät. Die Tabellen 1a und 1b zeigen zwei extreme Verteilungen, wie sie bei kleinen Beobachtungsmassen und insbesondere bei demografischen Erhebungen auftreten können – aber welche der Tabellen 1a und 1b ist geheim zu halten oder welche deckt personenbezogene Daten auf?

Auf Tabelle 1a wurden fünf Erwerbstätige mit Beruf und Alter so aufgeteilt, dass in den belegten Feldern jeweils nur eine Person vorkommt. Um entweder das Alter oder den Beruf einer Person sicher zu bestimmen wird Zusatzwissen benötigt, denn man müsste entweder das Alter oder den Beruf dieser Person kennen. Auf Tabelle 1  b wurden fünf Erwerbstätige mit Beruf und Alter so aufgeteilt, dass alle fünf in ein einziges der 25 Tabellenfelder fallen. In diesem Fall erkennt man von jedem Beruf und Altersgruppe, nämlich Friseur und über 60 Jahre alt. Geheimgehalten würde aber die erste und nicht die zweite Tabelle.

Obwohl es sich oben um theoretische Tabellen gehandelt hat, kommen sie in Wirklichkeit vor. Als bei der 1. baden-württembergischen Landtagswahl von 1952 in Bechingen6 alle 83 Wähler für die CDU votierten, war das Wahlgeheimnis praktisch aufgehoben; als dann 20 Jahre später bei der Landtagswahl von 1972 von den nun 74 Wählern Bechingens alle außer einem die CDU wählten, konnte sich nur jener eine ziemlich sicher fühlen, der damals für die SPD stimmte, denn von allen anderen konnte mit über 98-prozentiger Wahrscheinlichkeit die Wahlentscheidung genannt werden.

Die Tücke der Geheimhaltung

Was es mit derartigen Einsen auf sich haben kann, und wo bei nachlässiger Geheimhaltung tatsächlich ein Vertrauensbruch vorliegt, soll an einem weiteren Beispiel demonstriert werden. Auch dieses ist frei erfunden, obwohl es über ein Dutzend Gemeinden in Baden-Württemberg gibt, in denen es realiter bei der Volkszählung von 1987 hätte vorkommen können. Tabelle 2 verrät über eine Person sehr viele Details. Es ist aber nicht jene eine unter den 464 Deutschen, die sich zum Islam bekennt, sondern die eine Ausländerin. Stellen wir uns folgende Situation konkret vor: Jelena ist eine bekannte und beliebte Bedienung in einem Gasthaus, die einen Einheimischen heiraten möchte. Nun würde durch die amtliche Statistik veröffentlicht, dass sie nicht verwitwet sondern geschieden ist, dass sie nicht 27 Jahre sondern zwischen 30 und 40 Jahre alt ist, dass sie zudem noch Arbeitslosengeld bezieht, obwohl sie in der Dorfschenke bedient. Veröffentlichte die amtliche Statistik eine solche Tabelle käme sie ihrem gesetzlichen Informationsauftrag wohl nur fahrlässig nach. Die Konsequenz bei der durchzuführenden Geheimhaltung (beachte die blauen Werte) wäre allerdings, dass in der Beispielgemeinde etliche Daten über die deutsche Bevölkerung nicht veröffentlicht werden dürften, da sonst sehr einfach durch sogenannte Rückrechnungen eindeutige Rückschlüsse auf den hier dargestellten Einzelfall – auf Jelena – möglich wären. Das mag zwar bedauert werden, aber der informationelle Schutz und die persönliche Würde des Einzelnen sind dem allgemeinen Informationsbedürfnis voranzustellen.

Bei der Informationsbereitstellung ist zu hinterfragen und gegebenenfalls zu prüfen, ob ein berechtigtes Informationsbedürfnis über die soziale oder demografische Situation spezifischer Gesellschaftsgruppen eines Gebietes besteht, wenn diese Gruppe nur durch wenige Menschen repräsentiert wird. Andererseits hat die Gesellschaft aber das Recht zu wissen, wie zum Beispiel in einem Gebiet gewählt wurde – gleichgültig, ob dadurch ein informationelles Grundrecht wie das Wahlgeheimnis eingeschränkt wird oder nicht.

Die Statistik hat vom Grundsatz her Massenerscheinungen zu untersuchen und keine Einzelfälle. Da es durch den Einsatz moderner Technologie jedoch sehr einfach ist, tief gegliederte Tabellen zu erzeugen und damit Einzelheiten offen zu legen, ist der Statistiker in einem besonderen Maße gefordert und verantwortlich7.

1 Irrendorf auf dem Heuberg, ursprünglich und heute wieder »Irndorf«, »Irn« bedeutet »Grenze«, also eine Ansiedlung in einer Genzmark, der Name hat nichts mit »Irren« zu tun.

2 Oberamtsmappe von Tuttlingen.

3 Auszüge aus einem Vortrag, den Als im Jahr 1992 im Statistischen Landesamt Baden-Württemberg gehalten hat. Siehe dazu auch Als, Georges: Datenschutz erschwert und verteuert die amtliche Statistik – 12 Thesen über statistische Auskunftspflicht und Geheimhaltung, in: Baden-Württemberg in Wort und Zahl, Heft 1/1993, S. 6-9.

4 Begründung zum Gesetz über die Statistik für Bundeszwecke. Bundesgesetzblatt 1987, Teil I.

5 Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuss) zum Entwurf eines Gesetzes über die Statistik für Bundeszwecke, Deutscher Bundestag 10. Wahlperiode, Drucksache 10/6666.

6 Bechingen ist seit 1974 ein Ortsteil der Stadt Riedlingen im Landkreis Biberach.

7 Vgl. dazu auch: Walla, Wolfgang: Das Kreuz mit der »1«, in: Baden-Württemberg in Wort und Zahl, Heft 3/1994, S.103 ff und Heft 4/1998, S.187 ff.