Rankomanie, Superlative und Benchmarks
Durch die leichte Verfügbarkeit von Daten, den fast spielerischen Umgang mit Kalkulationsprogrammen und die komfortable Vermittlung über das World Wide Web scheint eine weltweite Rankomanie ausgebrochen zu sein. Täglich und zu kaum noch vorstellbaren Themen werden Rankings angeboten. Die Gewinner oder Teilgewinner nutzen das, was sie selbst in ein gutes Licht stellt, zur positiven Selbstdarstellung. Es scheint dabei keine Rolle zu spielen, was die vielen Superlative überhaupt aussagen und wie sie ermittelt wurden. Die Verlierer zweifeln ebenso selbstverständlich die Ergebnisse wegen methodischer Mängel an, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.
Fragwürdige Millionenzahlen
»Viele Neider behaupten, unser Service würde nichts bringen…« können wir unter http://www.ranking-charts.de finden … und weiter: »Wir treten hiermit den Gegenbeweis an. Mit dem Suchwort »Ranking« liegen wir bei der weltweiten Suche1 auf Platz 1 von 76 100 000 Ergebnissen! Wer es nicht glaubt, klickt bitte hier…« Das war am 26. August 2004. Drei Tage später, am 29. August 2004, waren es bereits 800 000 Suchergebnisse mehr. Mit dem Gegenbeweis war das aber so eine Sache, denn am 29. August 2004 hätten die Betreiber von »Ranking-charts« unter »Sport« 178 000 000 Zielinformationen gefunden, nur noch übertroffen durch »Sex«, das 182 000 000-mal in Google nachgewiesen wird. Wie unbedeutend scheinen demgegenüber Begriffe wie »Politik, Politic, Politics« mit 7 710 000 Ergebnissen zu sein, die sogar noch von »Statistik, Statistic, Statistics« mit 8 340 000 übertroffen werden. Gott oder God schafften es immerhin noch auf 11 800 000 Nachweisungen.
Villingen-Schwenningen: gesündeste Stadt Deutschlands?
Holland ist unter den kleinen EU-Staaten der größte und unter den großen der kleinste, meinte vor Jahren der französische Außenminister – sehr subtil, aber wohl richtig. Und dass in New Yorks Wallstreet ein fahrender Händler von seinem mobilen Verkaufsstand »The World Best Pretzels« anbietet, mag auch stimmen. Und dass Böllen unter den 1 111 Gemeinden Baden-Württembergs die kleinste und Stuttgart die größte ist, beeindruckt einen Stuttgarter wenig – und die Böllener können mit diesem »Superlativ« sogar kokettieren. Die Feststellung des Spiegel2, dass die Katholische Universität Eichstätt die beste in Deutschland ist, wird vermutlich nicht nur von jenen bezweifelt, die noch nie etwas von Eichstätt gehört haben. Und dass laut FOCUS3 Villingen-Schwenningen die gesündeste Stadt Deutschlands ist, überraschte sogar die dort Wohnenden. Genauso interessant, aber ebenso wertlos wäre zu wissen, welches die schlechteste Universität ist und welches die ungesündeste Stadt und wo die schlechtesten Brezeln gebacken werden. Der »3-Sigma-Blick«, der nur die jeweiligen Extremwerte im Auge hat, übersieht zwangsweise das meiste. Die fatalen Folgen dieser intellektuellen Beschränktheit erlebt die Gesellschaft, wenn Extreme argumentativ eingesetzt werden: »Hartz xy musste her«, weil Florida-Rolf durch die Presse getrieben wurde, und etwas später: »Hartz xy muss weg«, weil Mario Kieper, genannt »Locke«, nicht von einem Ein-Euro-Job leben kann.4 Gewinner und Verlierer von Rankings haben das Schicksal, dass sie leicht personalisiert werden können. Auch deshalb vermeidet die amtliche Statistik – allen voyeuristischen Wünschen zum Trotz – den Nachweis von Einzelangaben.
Die Besten, Größten, Schnellsten …
… haben ein Problem. Besser als der Beste oder größer als der Größte können die Rangersten nicht werden – nur schlechter, kleiner oder langsamer. Denn die Zweiten, Dritten, Vierten wollen vielleicht Erste werden. Der Konkurrenzkampf verstärkt sich – bis zur Blindheit. Die beiden weltweit größten Hersteller von Haarnetzen kämpften einst erbittert und mit immer besseren Werbestrategien um die Marktführerschaft in den USA. Als Haarspray angeboten wurde, verschwanden beide innerhalb von Monaten vom Markt, und das für immer. Heute hätten sie wieder die Chance eines Neubeginns. Ein Ranking versperrte den Blick auf das, was die Kundschaft tatsächlich wollte: Sie wollte keine Haarnetze, sondern die üppige Haarpracht bändigen.
Ähnlich eingeschränkt war der Blick eines Unternehmensberaters beim Ranking von Kopierkosten: Dass jene Organisationseinheit mit den niedrigsten Stückkosten an erster und jene mit den höchsten Kosten je Kopie an letzter Stelle erscheint, leuchtet zunächst ein. In der Regel sind solche Rankings aber widersinnig und verleiten zu unwirtschaftlichem Verhalten. Der Grund: Den größten Kostenanteil bei Kopierern bilden die Fixkosten, also jene Kosten, die auch dann anfallen, wenn überhaupt nichts kopiert wird. Auf die erste Kopie entfallen dann alle fixen Kosten plus die Kosten für ein Blatt Papier – eine solche Kopie dürfte einen Preis von mehreren 100 Euro haben. Es ist für die Inhaber der hinteren Rangplätze dann absolut folgerichtig, so viel wie möglich zu kopieren, um die anteiligen Fixkosten zu reduzieren. Die Folge ist, dass nicht der sparsame Umgang mit dem Kopiergerät einen guten Rang bringt, sondern der verschwenderische. Der Unternehmensberater hat mit seinem Ranking genau das Gegenteil von dem erreicht, was das Unternehmen wollte – der Vermieter der Kopierer kann dem Berater dankbar sein.
Vom Flop zum Top und umgekehrt
Die Shanghai Jiao Tong Universität5 gibt jährlich ein Ranking6 für die 500 »besten« Universitäten der Welt heraus. In der Länderwertung von 2004 kommt Deutschland insgesamt auf einen respektablen vierten Platz, hinter den USA, Großbritannien und Japan, aber noch vor Kanada, Frankreich, Schweden und der Schweiz. Von den baden-württembergischen Universitäten erreichten nur Heidelberg und Freiburg einen der vorderen Ränge. Gezählt werden unter anderem die Zahl der Nobelpreisträger unter den Absolventen und Forschern einer Universität, die Zitierhäufigkeit und die Zahl der Beiträge in Fachzeitschriften.
Institution7 | Weltrang | Europarang |
---|---|---|
Technische Universität München | 45 | 8 |
Universität München | 51 | 12 |
Universität Heidelberg | 64 | 17 |
Universität Göttingen | 79 | 25 |
Universität Freiburg | 88 | 30 |
Humboldt Universität Berlin | 95 | 35 |
Universität Bonn | 99 | 37 |
Universität Frankfurt | 101–152 | 38–59 |
Universität Hamburg | 101–152 | 38–59 |
Universität Kiel | 101–152 | 38–59 |
Universität Münster | 101–152 | 38–59 |
Universität Tübingen | 101–152 | 38–59 |
Universität Würzburg | 101–152 | 38–59 |
Universität Köln | 153–201 | 60–79 |
Universität Leipzig | 153–201 | 60–79 |
Universität Mainz | 153–201 | 60–79 |
Universität Marburg | 153–201 | 60–79 |
Freie Universität Berlin | 202–301 | 80–125 |
Technische Universität Aachen | 202–301 | 80–125 |
Technische Universität Berlin | 202–301 | 80–125 |
Universität Bochum | 202–301 | 80–125 |
Universität Erlangen/Nürnberg | 202–301 | 80–125 |
Universität Halle/Wittenberg | 202–301 | 80–125 |
Universität Karlsruhe | 202–301 | 80–125 |
Universität Regensburg | 202–301 | 80–125 |
Universität Stuttgart | 202–301 | 80–125 |
Universität Ulm | 202–301 | 80–125 |
Diese Zählweise scheint nicht unproblematisch zu sein, wie die Rangverschiebungen der Berliner Hochschulen zeigen: 2003 landete die Freie Universität noch auf Platz 95, im neuen Ranking fiel sie in die nicht weiter aufgeschlüsselten Ränge 202 bis 301. Die Humboldt-Universität dagegen stieg steil aus der Ranggruppe »152 bis 200« auf nunmehr Platz 95. Was war der Grund? Beide Universitäten »streiten« um das Vermächtnis der Berliner Universität vor dem Zweiten Weltkrieg: Der Berliner »Tagesspiegel« berichtete, dass sich die Humboldt-Universität wegen der Nobelpreiswertung beschwert habe. Das Shanghai-Institut zählt die Nobelpreisträger einer Hochschule seit 1911. Die Nobelpreise der früheren Berliner Universität seien zunächst der Freien Universität »gutgeschrieben« worden. Die wurde aber erst nach dem Krieg gegründet. Im Ranking von 2004 wurden die früheren Nobelpreise der Humboldt-Universität zugeordnet. Es muss wohl an der chinesischen Ahnenverehrung liegen, dass frühere wissenschaftliche Großleistungen heute noch als wirksam erachtet werden. Unter diesen Bedingungen werden Baden-Württembergs junge Universitäten Ulm und Konstanz kaum beachtenswerte Ränge erreichen können.
Noch problematischer wäre ein Notenranking folgender drei Schulklassen, wie es im Schaubild wiedergegeben ist. In der guten Klasse ist der Schüler mit der Note 2 der Viertschlechteste. In der schlechten Klasse dürfte jeder der 16 Fünferkandidaten von sich behaupten, er wäre der Fünftbeste. Insgesamt scheint das sehr durchsichtig zu sein. Was aber, wenn der Zuhörer die Verteilung nicht kennt, und nur die Ränge hört? Er wird dem Gehörten glauben müssen – und im letzten Fall auch ohne Kenntnis der Verteilung an der Qualität der Schule zu zweifeln beginnen.
Olympiade: Die Chinesen sind so gut, weil die Russen so schlecht sind …
… wurden wir von einem unserer Sportreporter belehrt. Der Medaillenspiegel vom 23. August 2004 offenbarte dem »Sportanalysten«: China 22 Goldmedaillen, USA 21 und Russland nur 7. Bei früheren Olympiaden sei das ganz anders gewesen. Man wird den Verdacht nicht los, dass hier Russland mit der ehemaligen Sowjetunion verwechselt wurde. Die hätte nach Abschluss der Spiele den Medaillenspiegel sogar mit 45 Goldmedaillen angeführt: Russland 27-mal Gold, Ukraine 9-mal, Georgien, Usbekistan und Weißrussland je 2-mal sowie Aserbaidschan, Kasachstan und Litauen je 1-mal. Aber auch ohne diesen Blick in die Vergangenheit gewann Russland bis zum Ende der Olympiade 92 Medaillen, China aber nur 63. Dieses fast trivial anmutende Beispiel offenbart ein Dilemma, wie folgender Disput zwischen Microsoft und General Motors noch deutlicher belegt: Bill Gates: »Wenn Autos die Leistungssteigerung und den Preisverfall von PC hätten, dürften sie nur noch 100 Dollar kosten.« Darauf GM: »Ja, dann würden sie auch täglich dreimal ohne Vorwarnung stehen bleiben.« Die Kontrahenten scheinen in ihrer Polemik übersehen zu haben, dass ein 36-Tonnen-Kieslaster dann auch nur die Größe einer Schuhschachtel haben dürfte. Das Dilemma besteht in der Vergleichbarkeit der zu vergleichenden Objekte. Die Objekte müssen in den klassischen statistischen Dimensionen vergleichbar sein, das heißt: das sachlich Gleiche muss zur selben Zeit und – sofern erforderlich – in vergleichbaren räumlichen Abgrenzungen beobachtet worden sein.
Gewinner fühlen sich als Gewinner und Verlierer als Verlierer
Rankings basieren im besseren Fall auf quantitativen Analysen, im schlechteren Fall auf strukturierten Umfragen, im schlechtesten Fall auf offenen Interviews. Sie liefern nur im jeweiligen Erhebungs- und Analysekontext interpretierbare Informationen, was den Informationsgehalt stark schmälert. Dennoch können sie als Benchmarks dienen. Die allgemeine Akzeptanz von Benchmarks scheint bei den Betroffenen allerdings noch geringer zu sein als jene für Rankings. Niemand scheint sich gerne nachsagen zu lassen, dass er eigentlich besser sein könnte. Die stereotype – und schon deshalb inadäquate – Antwort ist: »Das kann man nicht vergleichen, weil die Situationen unterschiedlich sind.« Und genau darum geht es. Denn wenn das Umfeld ungünstig ist, muss dieses verbessert werden. Das scheinen Betroffene, Journalisten, Unternehmensberater, Controller und Rechnungshöfe manchmal zu übersehen oder übersehen zu wollen. Der Nutzen von Rankings und Benchmarks liegt in der Tatsache, dass schlecht bewertete Unternehmen, Behörden, Personen in einen Erklärungsnotstand kommen. Die damit verbundene Selbstreflexion alleine ist schon das Geld für die Erstellung von Rankings und Benchmarks wert. Dass die Rangersten sich als Gewinner und die Rangletzen als Verlierer fühlen, ist dann von Nutzen, wenn die Gewinner Dünkel und die Verlierer Verzagtheit vermeiden und im Schweizer Käse nicht nur den Käse, sondern auch die Löcher sehen und umgekehrt.