Ein Jahr Digitaltauglichkeits-Check Baden-Württemberg
Erste Erfahrungen mit einem neuen Werkzeug zur besseren Rechtsetzung
Seit Oktober 2023 müssen in Baden-Württemberg neue und zu ändernde Gesetze, Verordnungen, Verwaltungsvorschriften und innerdienstliche Anordnungen vor ihrem Inkrafttreten systematisch auf Digitaltauglichkeit geprüft werden. Zuvor hatte der Normenkontrollrat (NKR) BW bei seiner Prüfung von neuem Landesrecht bereits entsprechende Empfehlungen gegeben. Klassische Digitalisierungshindernisse wie zum Beispiel Medienbrüche, Nachweise in Papierform oder persönliches Erscheinen auf dem Amt sollen künftig möglichst vermieden werden. Die Landesregierung hat ihren Legistinnen und Legisten dazu ein neues Werkzeug an die Hand gegeben: den Digitaltauglichkeits-Check BW. Vergleichbare Tools sind auf Bundesebene, in einigen Bundesländern und auch im Ausland im Einsatz. Ein Jahr nach dem Stapellauf ist es an der Zeit für eine erste Zwischenbilanz: Wie bewährt sich das neue Instrument in der Praxis? Was könnten Ansatzpunkte für eine Weiterentwicklung sein? Der folgende Werkstattbericht gibt aktuelle Einblicke in dieses interessante Entwicklungsfeld. Hintergrund ist das »3-Säulen-Modell« der Landesregierung Baden-Württembergs zur Verwaltungsmodernisierung (siehe i-Punkt »Das ‚Drei-Säulen-Modell‘ der Verwaltungsmodernisierung« und Abbildung).
Warum ein Digitaltauglichkeits-Check?
Das große Entlastungspotenzial der Verwaltungsdigitalisierung wird in öffentlichen Debatten regelmäßig beschworen. Bislang ist es allerdings noch nicht gelungen, dieses Potenzial in vollem Umfang zu erschließen. Um weiter voranzukommen, lohnt es sich, den Prozess der Rechtsetzung ins Visier zu nehmen. Dort werden die Rahmenbedingungen für den Vollzug gesetzt. Nicht digitaltaugliches Recht behindert die digitale Durchführung und Automatisierung von Verwaltungsverfahren. Das Festhalten an nicht erforderlichen Schriftformerfordernissen beispielsweise zementiert vermeidbare Personal- und Sachaufwände und unnötig lange Bearbeitungszeiten oft über Jahre hinweg.
Die Weichen für die Verwaltungsdigitalisierung werden also in der Rechtsetzung gestellt. Verwaltungsdigitalisierung wiederum ist ein wichtiger Hebel für Bürokratieentlastung. Einfache, zügige, transparente und nutzendenorientierte elektronische Zugänge zu effizienten Verwaltungsverfahren mit medienbruchfreien elektronischen Geschäftsprozessen sind das Ziel. Voraussetzung dafür sind Rechtsgrundlagen, die das möglich machen und nicht behindern. Mit dem Digitaltauglichkeits-Check als Werkzeug soll es leichter werden, Regelungsentwürfe möglichst frühzeitig systematisch auf Digitaltauglichkeit zu prüfen. Der Check soll dazu beitragen, dass Digitalisierungserfordernisse in der Rechtsetzung von Anfang an mitgedacht und angemessen berücksichtigt werden.
Von der Idee zum Instrument
In Europa gelten Österreich und Dänemark in Sachen digitaltaugliches Recht als Pioniere: Bereits seit 2012 ist in Österreich ein Leitfaden zur Prüfung legistischer Vorhaben auf IKT-Tauglichkeit im Einsatz. In Dänemark wurde 2018 ein obligatorischer Digitaltauglichkeits-Check über eine politische Vereinbarung aller Parteien eingeführt.1 In Deutschland findet sich der blinde Fleck ab 2018 auf der politischen Agenda. Die damalige CDU/CSU-SPD-Bundesregierung verankerte im Koalitionsvertrag für die 19. Legislaturperiode das Ziel, alle Gesetze auf Digitaltauglichkeit zu prüfen.2 Tatsächlich in Angriff genommen wurde das Vorhaben allerdings erst in der darauffolgenden Legislaturperiode ab 2021. Der Koalitionsvertrag enthielt das konkretisierte Ziel, einen Digitalcheck zu schaffen, der im Vorfeld des Gesetzgebungsverfahrens die Möglichkeit der digitalen Ausführung prüft. Zum 1. Januar 2023 wurde der Digitalcheck des Bundes dann eingeführt. Im ersten Jahr haben von insgesamt 87 eingebrachten Bundesgesetzen 72 den Digitalcheck Bund durchlaufen.3
Der Digitaltauglichkeits-Check Baden-Württembergs geht auf die Koalitionsvereinbarung 2021 von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und CDU zur 17. Legislaturperiode zurück. Seit dem 1. Oktober 2023 ist für alle landesrechtlichen Regelungsvorhaben mit Auswirkungen auf die digitale Abwicklung von Verwaltungsverfahren ein Digitaltauglichkeits-Check Pflicht.4 Das neue Instrument steht unter der Federführung des Ministeriums des Inneren, für Digitalisierung und Kommunen Baden-Württemberg und wird iterativ und praxisorientiert weiterentwickelt. Die Landesministerien und weitere Partner werden kontinuierlich in den Entwicklungsprozess einbezogen.
Im ersten Jahr5 haben insgesamt 159 landesrechtliche Regelungsvorhaben den Digitaltauglichkeits-Check BW durchlaufen. Zu 91 davon hat die Prüfstelle Digitaltauglichkeits-Check im Innenministerium ausführliche Stellungnahmen abgegeben. Zu 41 Regelungsvorhaben haben die Ministerien im ersten Jahr die Unterstützung der Stabsstelle für Bürokratieentlastung zum Digitaltauglichkeits-Check BW in Anspruch genommen.
Wie läuft der Digitaltauglichkeits-Check BW ab?
Der Digitaltauglichkeits-Check BW ist als schlankes digitales Verfahren mit zwei Schritten angelegt. Das jeweils federführende Ministerium ist für den Check seines Regelungsvorhabens verantwortlich. Arbeitsgrundlage ist der Leitfaden Digitaltauglichkeits-Check. Er liegt dem Kerndokument der baden-württembergischen Rechtsetzung, der Verwaltungsvorschrift der Landesregierung und der Ministerien zur Erarbeitung von Regelungen (VwV Regelungen), als Anlage6 bei.
1. Schritt: frühzeitig Vorprüfung durchführen: Es empfiehlt sich, zu Beginn der Arbeiten an einem Regelungsvorhaben frühzeitig die Vorprüfung zum Digitaltauglichkeits-Check durchzuführen. Möglichst sobald eine erste für die ressortinterne Abstimmung freigegebene Textfassung der Regelung vorliegt. Das Ergebnis der Vorprüfung wird vom federführenden Ministerium an die Stabsstelle für Bürokratieentlastung beim Statistischen Landesamt übermittelt (siehe i-Punkt »Die Stabsstelle für Bürokratieentlastung (SfBe)«).
Die Stabsstelle gibt daraufhin eine verlässliche Ersteinschätzung ab, ob ein Digitaltauglichkeits-Check erforderlich ist. Das erleichtert die weitere Planung. Die Stabsstelle identifiziert außerdem gegebenenfalls alle digitalrelevanten Vorgaben, liefert mögliche Ansatzpunkte zur Optimierung der Digitaltauglichkeit und gibt Tipps zu Bürokratievermeidung und Vollzugstauglichkeit. Anhand dieses vertraulichen Feedbacks lässt sich Schritt 2 mit deutlich weniger Arbeitsaufwand erledigen.
2. Schritt: Digitaltauglichkeits-Check durchführen, Ergebnisse dokumentieren: Die Vorprüfung hat ergeben, dass ein Digitaltauglichkeits-Check erforderlich ist. Nun sollten möglichst frühzeitig alle neu zu erlassenden beziehungsweise zu ändernden digitalrelevanten Vorgaben des Regelungsvorhabens bearbeitet und von Anfang an digitaltauglich gestaltet werden – optimalerweise bereits mit Vorliegen der ersten für die ressortinterne Abstimmung freigegebenen Textfassung. Das Ergebnis des Digitaltauglichkeits-Checks ist zu dokumentieren. Dazu ist für alle neu zu erlassenden beziehungsweise zu ändernden digitalrelevanten Regelungsinhalte jeweils kurz zu begründen, warum es sich dabei um digitaltaugliche Vorgaben handelt. Das Ergebnis des Digitaltauglichkeits-Checks wird vom federführenden Ministerium an die neu eingerichtete Prüfstelle Digitaltauglichkeits-Check im Innenministerium übermittelt. Die Prüfstelle nimmt daraufhin zum Ergebnis Stellung (siehe i-Punkt »Die Prüfstelle Digitaltauglichkeits-Check«).
Neu: Service für Legistinnen und Legisten
In puncto Serviceorientierung setzt der Digitaltauglichkeits-Check neue Maßstäbe: Die Legistinnen und Legisten müssen Digitalisierungshindernisse in ihren Regelungsvorhaben nicht selbst identifizieren. Sie können sich stattdessen darauf konzentrieren, sie zu entschärfen. Die Stabsstelle für Bürokratieentlastung beim Statistischen Landesamt und die Prüfstelle beim Innenministerium stehen den Ministerien über den gesamten Prozess hinweg mit unterschiedlichen Schwerpunkten beratend zur Seite. Die Stabsstelle bei Schritt 1 – Vorprüfung, die Prüfstelle bei Schritt 2 – Digitaltauglichkeits-Check durchführen, Ergebnisse dokumentieren. Außerdem wurde eine Wissensbasis für Legistinnen und Legisten im BW-Portal eingerichtet. Dort sind zentral alle wichtigen Arbeitsmaterialien und Hintergrundinformationen zum Digitaltauglichkeits-Check zu finden (siehe i-Punkt »Neue Wissensbasis für die Rechtsetzung«).
Ein Jahr nach dem Stapellauf – erste Erfahrungen
Nach einem Jahr Anwendungserfahrung zeichnet sich ab: Neue und zu ändernde landesrechtliche Regelungsvorhaben lassen sich mithilfe des Leitfadens zum Digitaltauglichkeits-Check BW systematisch auf Digitaltauglichkeit untersuchen. Schwachstellen werden identifiziert, priorisiert und wenn möglich direkt behoben. Die Landesministerien können ihren Aufwand für den DigitaltauglichkeitsCheck insbesondere dadurch wesentlich reduzieren, dass sie die Unterstützung der Stabsstelle für Bürokratieentlastung bei der Vorprüfung in Anspruch nehmen. Erste Erfahrungswerte bestätigen außerdem, dass es ratsam ist, die Vorprüfung zum Digitaltauglichkeits-Check frühzeitig zu durchlaufen. Dadurch steigt die Planbarkeit des Rechtsetzungsprozesses.
In den bisherigen Beratungen zeigte sich, dass die Legistinnen und Legisten ihre Aufmerksamkeit zunächst auf die Digitaltauglichkeit nach außen gerichteter Verwaltungsverfahren konzentrieren. Hintergrund ist die in § 9 Landesverwaltungsverfahrensgesetz verankerte Legaldefinition zum Begriff Verwaltungsverfahren. Im Rahmen des Digitaltauglichkeits-Checks ist der Begriff Verwaltungsverfahren im Sinn von Nummer 4.5 VwV Regelungen ausdrücklich breiter zu verstehen. Nicht nur »die nach außen wirkende Tätigkeit der Behörden« sondern ausdrücklich auch verwaltungsinterne Verfahren sind digitaltauglich zu gestalten. Dafür gilt es weiterhin zu sensibilisieren.
Das Feedback aus den Landesministerien fällt positiv aus:7 Der Digitaltauglichkeits-Check erweist sich bislang nicht wie befürchtet als den Rechtsetzungsprozess verzögernder bürokratischer Flaschenhals. Die Ministerien loben vielmehr ausdrücklich kurze Reaktionszeiten sowohl bei der Vorprüfung als auch bei der Prüfung der Ergebnisse. Die unterstützenden Services werden als sehr hilfreich erlebt. Sie scheinen aber auch ein Jahr nach dem Start des neuen Instruments und trotz zahlreicher werbender Aktionen noch nicht allen Legistinnen und Legisten bekannt zu sein. Das hängt zum einen vermutlich mit dem Durchlaufcharakter des Aufgabenbereichs Rechtsetzung zusammen, in dem es wohl zu häufigen Personalwechseln kommt. Zum anderen sind Regelungsvorhaben oft eine mit größeren Zeitabständen anstehende Aufgabe. Das verantwortliche Personal bereitet sich häufig unter Zeitdruck ad hoc anhand bereits vorliegender Vorarbeiten vor. Es empfiehlt sich also weiterhin, die Legistinnen und Legisten kontinuierlich zum neuen Instrument zu informieren. Dabei sollte insbesondere der Mehrwert einer frühzeitigen Vorprüfung noch besser vermittelt werden. Sie bedeutet zunächst für die Ministerien unmittelbar deutlich weniger Arbeitsaufwand, da die digitalrelevanten Vorgaben nicht selbst identifiziert werden müssen. Die frühzeitige Vorprüfung ist allerdings auch die Initialzündung für eine bessere Digitaltauglichkeit von Landesrecht. Denn auch für Digitalisierungshindernisse gilt die Devise: Früh erkannt, Gefahr gebannt.
Die Legistinnen und Legisten stehen dem Thema Verwaltungsdigitalisierung und digitaltaugliches Recht aufgeschlossen gegenüber. Eine frühzeitige Vorprüfung eröffnet die Möglichkeit, auch Empfehlungen zur Bürokratieentlastung und zur Vollzugstauglichkeit in positivem Umfeld frühzeitig zu platzieren. Das dürfte es wahrscheinlicher machen, dass verwertbare Anregungen aufgegriffen werden können.
Ansatzpunkte zur Weiterentwicklung
Die Premiere des Digitaltauglichkeits-Checks wird seitens der Stakeholder aus Wirtschaft und Gesellschaft einhellig begrüßt.8 Branchenexpertinnen und -experten sehen Mehrwert insbesondere darin, dass Legistinnen und Legisten frühzeitig sensibilisiert und begleitend beraten werden. Dadurch können sich bessere Voraussetzungen für die spätere digitale Umsetzung ergeben. Ein guter Digitaltauglichkeits-Check sollte außerdem konkrete Prüfkriterien enthalten, die im politischen Prozess für mehr Transparenz in Sachen digitale Umsetzbarkeit von Regelungsvorhaben sorgen.
Der Digitaltauglichkeits-Check BW erfüllt diese Anforderungen grundsätzlich bereits. In der nächsten Entwicklungsstufe wäre es zunächst ratsam, die begleitende Beratung im Austausch mit den Legistinnen und Legisten weiter zu optimieren. Die wachsende Erfahrung des beratenden Personals dürfte sich zunehmend positiv auswirken. Was die Prüfkriterien betrifft, ist der Digitaltauglichkeits-Check BW mit einem auf die derzeitige Situation zugeschnittenen Kriterienkatalog gestartet. Anspruchsvollere Prüfkriterien wie zum Beispiel Once Only, die Registermodernisierung, FIM (Föderales Informationsmanagement), die Modularisierung/Harmonisierung von Rechtsbegriffen oder das Einbeziehen innovativer Nutzungs- und Skalierungsszenarien wie Cloud-Lösungen blieben zunächst bewusst außen vor. Ihr Einsatz wäre bislang angesichts fehlender rechtlicher, technischer und organisatorischer Voraussetzungen noch verfrüht. Insgesamt empfiehlt es sich, die Latte der Prüfkriterien mit Blick auf den Erfüllungsstand Schritt für Schritt höher zu legen.
Fazit und Perspektiven
Alles in allem sind die ersten Erfahrungen mit dem Digitaltauglichkeits-Check Baden-Württemberg vielversprechend. Durch die neue Etappe im Rechtsetzungsverfahren werden Legistinnen und Legisten für die rechtlichen, technischen und organisatorischen Voraussetzungen der Digitalisierung von Verwaltungsverfahren sensibilisiert. Rechtliche Digitalisierungshindernisse können vor dem Inkrafttreten erkannt und behoben werden. Durch Standardisierung, begleitende Beratung und ergänzende Informationsangebote verzögert sich das Rechtsetzungsverfahren nur unwesentlich. Nach bisherigen ersten Erfahrungen kann der Digitaltauglichkeits-Check BW dazu beizutragen, dass zunehmend digitaltauglicheres Landesrecht erlassen wird. Angesichts der noch zahlreichen rechtlichen, technischen und organisatorischen Hindernisse auf dem Weg zu digitalen Verwaltungsverfahren erweist sich der iterative Ansatz des Digitaltauglichkeits-Checks BW als pragmatisch und zielführend.
Frei nach dem ehemaligen Telefónica Deutschland CEO Thorsten Dirks erhält man, wenn man einen vorhandenen analogen Prozess digitalisiert, nicht unbedingt einen guten digitalen Prozess. Insbesondere bei komplexen Verwaltungsverfahren sind neben einem initialen Digitaltauglichkeits-Check der Rechtsgrundlage für eine überzeugende Digitalisierung sicherlich weitere Maßnahmen erforderlich. Zum Beispiel Praxis-Checks oder Digital-Labore, um Schwächen bestehender Prozesse und Verfahren optimalerweise bereits vor den Schritten Rechtsetzung und Digitalisierung offenzulegen und zu beseitigen.