Baden-Württemberg und Thüringen im Vergleich: Bevölkerung und Erwerbstätigkeit 1991 bis 2021
Am 3. Oktober 2022 wurde in Erfurt der Tag der Deutschen Einheit unter dem Motto »zusammen wachsen« gefeiert. Damit angesprochen sind Fragen wie: Ist die Gesellschaft in Ost- und Westdeutschland 32 Jahre nach der Wiedervereinigung wirklich zusammengewachsen? Wachsen die neuen und die alten Länder inzwischen zusammen, also gemeinsam, im Gleichschritt? Besonders der zweite Aspekt steht hier im Fokus einer Analyse der beiden Länder Baden-Württemberg und Thüringen.
Warum Baden-Württemberg und Thüringen? Beide Länder weisen bemerkenswerte Gemeinsamkeiten auf:
- Vor der Wiedervereinigung lagen beide Länder im Südwesten des jeweiligen Gebiets, also im früheren Bundesgebiet bzw. in der ehemaligen DDR.
- Internationalen Bekanntheitsgrad erfahren beide Länder durch touristische Highlights: Zum einen Schwarzwald, Schwäbische Alb und Bodensee bzw. Thüringer Wald und Südharz, zum anderen sehenswerte Städte, Burgen, Schlösser und Gärten mit beeindruckender Geschichte.
- Beide Länder umfassen jeweils etwa ein Sechstel der Bevölkerung, der Erwerbstätigen und der Wirtschaftskraft in ihrem Teilgebiet (West- bzw. Ostdeutschland).
- Die Gebiete beider Länder waren politisch jahrhundertelang Flickenteppiche und sind erst nach verschiedenen Fusionsprozessen in ihrer heutigen Form entstanden; nähere Ausführungen finden sich im i-Punkt »Geschichte beider Länder nach 1800«.
- Ohne größere Bodenschätze entwickelten sich im 19. Jahrhundert in beiden Ländern aus Handwerk und Gewerbe weltberühmte Unternehmen mit Schwerpunkten in den Bereichen Maschinen- und Fahrzeugbau, Feinmechanik, Optik und Uhren, Medizintechnik, Spiel- und Schmuckwaren.
- Die damit verbundenen technologischen Pionierleistungen sind heute noch sichtbar. Baden-Württemberg weist unter allen und Thüringen unter den ostdeutschen Ländern die mit Abstand höchste Patentdichte auf: 2021 hatte Baden-Württemberg 122, Thüringen 25 Anmeldungen je 100 000 Einwohnerinnen und Einwohnern.
Bevölkerungsentwicklung
In Tabelle 1 ist die Entwicklung der Bevölkerung beider Länder nach der Wiedervereinigung zwischen 1991 und 2021 dargestellt, und zwar nach den Ergebnissen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR).1 Während in Baden-Württemberg die Zahl der Einwohnerinnen und Einwohner mehr oder weniger kontinuierlich angestiegen ist und 2021 um 12,2 % höher lag als 1991, hat in Thüringen ein stetiger Rückgang stattgefunden mit dem Ergebnis eines 2021 um 18,4 % niedrigeren Bevölkerungsumfangs als 1991. Baden-Württemberg konnte seinen Anteil an der Bevölkerung Deutschlands von 12,4 % auf 13,4 % und an der Bevölkerung Westdeutschlands von 16 % auf 16,6 % kontinuierlich ausbauen. Das Land Thüringen musste nicht nur einen stetigen Anteilsverlust innerhalb Deutschlands von 3,2 % auf 2,5 % hinnehmen, es hat auch Anteile an der Bevölkerung in Ostdeutschland verloren (Rückgang von 17,7 % auf 16,9 %). 2021 lebten in Baden-Württemberg 11,11 Millionen (Mill.) Menschen, in Thüringen 2,11 Mill.
Aus Schaubild 1 geht der jährliche Verlauf dieser Entwicklungen hervor. Deutlich wird ein besonders starker Anstieg der Bevölkerungszahlen in Baden-Württemberg und in Westdeutschland in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung, der offensichtlich zulasten der ostdeutschen Länder und insbesondere auch Thüringens gegangen ist. Dieses Auseinanderdriften hat sich danach in etwas moderaterer Form fortgesetzt, wobei zwischen 2005 und 2010 in Baden-Württemberg bzw. 2004 und 2010 in Westdeutschland ebenfalls ein leichter Bevölkerungsverlust zu beobachten war. Danach gingen die Bevölkerungszahlen in Baden-Württemberg und Westdeutschland wieder nach oben, besonders stark nach 2014 im Zuge der Aufnahme von Geflüchteten. Aufgrund dessen ist in Thüringen und in Ostdeutschland, bei ansonsten anhaltendem Bevölkerungsrückgang, zwischen 2014 und 2016 ein leichter Bevölkerungsanstieg eingetreten. Außerdem wird deutlich, dass der Bevölkerungsaufbau in Baden-Württemberg kräftiger ausgefallen ist als in Westdeutschland, und der Bevölkerungsrückgang in Thüringen stärker ausgeprägt war als in der Summe der ostdeutschen Flächenländer.
Binnenwanderung zwischen Ost- und Westdeutschland
Verantwortlich für diese Entwicklungen sind vor allem die Binnenwanderungen zwischen Ost- und Westdeutschland.2 Schaubild 2 zeigt einen Wanderungsverlust der ostdeutschen Länder durch sehr umfangreiche Fortzüge nach Westdeutschland vor allem in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung. 1991 sind 229 200 Menschen von Ost- nach Westdeutschland umgezogen, aber nur 63 800 Personen haben den umgekehrten Weg gewählt, woraus sich ein Binnenwanderungssaldo in Höhe von 165 400 Personen ergibt.3 Bis Mitte der 1990er-Jahre hat sich dieser Saldo deutlich verringert (1996: 24 900 Personen), danach ist er wieder angestiegen (bis 2001 auf 97 600 Personen) und anschließend mehr oder weniger kontinuierlich zurückgegangen. Ab 2017 hat sich sogar ein Wanderungssaldo zugunsten Ostdeutschlands eingestellt.
Bemerkenswerterweise haben sich die Zuzüge von West- nach Ostdeutschland – nach 1991 mit den genannten 63 800 Personen – über die Jahre hinweg in relativ engen Bahnen bewegt: Die Spitze wurde 1996 mit 100 600 Personen erreicht, die geringsten Werte 2006 und 2007 mit jeweils 83 300 Personen erzielt. Demgegenüber waren die Fortzüge aus Ost- nach Westdeutschland erheblichen Schwankungen unterworfen. Die Abwanderung aus dem Osten belief sich 1991 auf 229 200 Personen und ging danach über 175 900 Personen im Jahr 1992, 143 000 Personen im Jahr 1993 und je 129 900 Personen in den Jahren 1994 und 1995 auf 124 900 Personen im Jahr 1997 zurück; es wurde also zunächst eine gewisse Konsolidierung erreicht. Anschließend erfolgte wieder ein recht steiler Anstieg bis auf 192 000 Abwanderungen im Jahr 2001, bedingt durch einen kurzzeitigen wirtschaftlichen Boom, der vor allem die westdeutschen Länder erreicht hat und an den ostdeutschen Ländern ziemlich vorbeigegangen ist. Nach einem fast spiegelbildlichen, starken Rückgang auf 120 500 Abwanderungen im Jahr 2009 folgte eine deutlich verlangsamte Verringerung bzw. Verstetigung auf zuletzt 85 100 abgewanderte Personen im Jahr 2021.
Im Zeitraum 1990 bis 2021 haben sich die Umzüge von Ost- nach Westdeutschland auf 4,43 Mill. Personen summiert, die Umzüge von West- nach Ostdeutschland auf 2,85 Mill. Personen. Hieraus errechnet sich ein Bevölkerungsgewinn Westdeutschlands durch Binnenwanderung in Höhe von 1,57 Mill. Menschen, das sind mehr Menschen als die Wohnbevölkerung von München (1,49 Mill. Einwohnerinnen und Einwohner). Bezogen auf die Bevölkerungszahl 1991 in Ostdeutschland sind dies stattliche 10,6 %, in Bezug auf Westdeutschland immerhin 2,6 %.
Binnenwanderungssalden Baden-Württembergs und Thüringens gegenüber anderen Ländern
Wie haben sich in diesem Rahmen die Binnenwanderungen Baden-Württembergs und Thüringens bewegt? Hierzu gibt eine Sonderauswertung der Binnenwanderungssalden durch das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung Auskunft.4 Danach hat Baden-Württemberg nur im Zeitraum 2000 bis 2009 einen nennenswerten Überschuss bei der Binnenwanderung in Höhe von zwei Personen je 1 000 Einwohnerinnen und Einwohnern pro Jahr erzielt, höhere Pro-Kopf-Wanderungsüberschüsse hatten Hamburg, Schleswig-Holstein und Bayern aufgewiesen. Im Zeitraum 1991 bis 1999 war der Binnenwanderungssaldo Baden-Württembergs nur leicht positiv, im Zeitraum 2010 bis 2014 ausgeglichen und im Zeitraum 2015 bis 2020 sogar leicht negativ. Während im Zeitraum 1991 bis 1999 mit Bayern, Hamburg, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Hessen ausschließlich westdeutsche Länder besser abgeschnitten haben als Baden-Württemberg, war dies ab 2010 auch bei einigen ostdeutschen Ländern der Fall: Im Zeitraum 2010 bis 2014 bei Brandenburg und Sachsen und im Zeitraum 2015 bis 2020 zusätzlich noch in Mecklenburg-Vorpommern. Baden-Württemberg hat mithin seit der Wiedervereinigung unter dem Strich nicht übermäßig stark von der Binnenwanderung profitiert.
In Thüringen war der Binnenwanderungssaldo im gesamten Zeitraum 1991 bis 2020 negativ. Jeweils bezogen auf 1 000 Einwohnerinnen und Einwohner lag er im Zeitraum 1991 bis 1999 pro Jahr bei vier Personen, im Zeitraum 2000 bis 2009 bei fünf Personen, im Zeitraum 2010 bis 2014 bei drei Personen und im Zeitraum 2015 bis 2020 bei zwei Personen. Zwischen 1991 und 2009 haben nur Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern schlechter abgeschnitten als Thüringen, im Zeitraum 2010 bis 2014 nur Sachsen-Anhalt und im Zeitraum 2015 bis 2020 nur Bremen. Der auf Ost-West-Wanderungen zurückzuführende Bevölkerungsrückgang war also in Sachsen-Anhalt und in Thüringen besonders ausgeprägt.
Der Wanderungssaldo Thüringens war, zumindest ab 2000, sowohl gegenüber Westdeutschland insgesamt als auch gegenüber der Summe der anderen Länder Ostdeutschlands durchweg negativ.5 Das Abwanderungsdefizit gegenüber Westdeutschland belief sich 2000 bis 2008 auf jährlich etwa 10 000 bis 14 000 Personen, reduzierte sich danach aber recht kontinuierlich auf weniger als 1 000 im Jahr 2021. Gegenüber den anderen ostdeutschen Ländern lag der Verlust bis 2003 unter 1 000 Personen, nahm dann stetig zu bis auf knapp 2 300 Personen im Jahr 2006 und bewegte sich im Zeitraum 2007 bis 2017 bei 1 600 bis 3 200 Personen. Nach 2017 erfolgte eine Verringerung bis auf knapp 1 400 Personen im Jahr 2021 und war damit – wie schon 2019 – höher als der Abwanderungssaldo nach Westdeutschland. Insgesamt gesehen erfolgte also in den letzten Jahren eine gewisse Normalisierung bei den Wanderungsverlusten gegenüber den anderen Ländern Deutschlands.
Bis 2012 waren die Abwanderungsüberschüsse Thüringens gegenüber Bayern am höchsten, im Anschluss lag Sachsen als Zielland ganz vorne. Unter den westdeutschen Ländern hat Baden-Württemberg bis 2008 hinter Bayern und noch vor Hessen die meisten Thüringerinnen und Thüringer aufgenommen. Danach hat sich die Abwanderung vormals Thüringer Bürgerinnen und Bürger gleichmäßiger auf die westdeutschen Länder verteilt, in den letzten Jahren haben sich im Verhältnis zu einigen Westländern, so auch zu Baden-Württemberg, teilweise sogar leichte Zuwanderungsüberschüsse Thüringens eingestellt. Weitgehend positiv war der Wanderungssaldo Thüringens über die Jahre hinweg nur gegenüber dem Nachbarland Sachsen-Anhalt.
Binnenwanderung zwischen Baden-Württemberg und Thüringen
Die Wanderungsbewegungen zwischen Baden-Württemberg und Thüringen sind in Schaubild 3 aufgezeichnet. Das Bild der Zu- und Abwanderungen sowie des Wanderungssaldos zwischen beiden Ländern entspricht weitgehend dem Muster für Ost-West-Wanderungen innerhalb Deutschlands (Schaubild 2). Insbesondere sind die Umzüge von Baden-Württemberg nach Thüringen deutlich ruhiger verlaufen als die Umzüge von Thüringen nach Baden-Württemberg. Die Fortzüge von Baden-Württemberg nach Thüringen haben nur 1992 mit 3 080 Personen die 3 000er-Grenze übertroffen, in den anderen Jahren lagen sie zwischen 1 930 Personen (2001) und 2 870 Personen (1994) recht nahe beieinander. Die Fortzüge aus Thüringen nach Baden-Württemberg beliefen sich 1991 auf 7 460 Personen und haben sich bis 1994 auf 3 520 Personen mehr als halbiert und nach einem leichten Auf und Ab 1998 mit 3 750 Personen dieses Niveau ungefähr wieder erreicht. Anschließend gingen die Zuzüge aus Thüringen nach Baden-Württemberg recht steil nach oben bis auf 6 170 Personen im Jahr 2001, im Anschluss bis 2005 mit 4 160 Personen ebenso steil nach unten; nach einem Zwischenhoch bis 2008 erfolgte dann ein ziemlich kontinuierlicher Rückgang auf 2 200 Personen im Jahr 2021.
Der Wanderungsgewinn Baden-Württembergs gegenüber Thüringen war 1991 mit 5 280 Personen am höchsten, er hat bis 1994 deutlich auf 650 Personen abgenommen und ist erst nach 1998 wieder nennenswert auf 4 240 Personen im Jahr 2001 angestiegen. In den nachfolgenden Jahren hat er sich stetig verringert, 2017 sowie 2020 und 2021 hat Thüringen sogar einen Wanderungsüberschuss gegenüber Baden-Württemberg erzielt.
Interessant ist die Altersstruktur der Zu- und Fortzüge von Thüringen nach Baden-Württemberg und umgekehrt. Aus Tabelle 2 wird zunächst deutlich, dass sich die Umzüge von Baden-Württemberg nach Thüringen im Zeitraum 1991 bis 2021 nicht nur insgesamt, sondern auch in den einzelnen Altersgruppen in recht engen Bandbreiten bewegt haben. Lediglich bei den 50- bis unter 65-Jährigen und in abgeschwächter Form auch bei den 65-Jährigen und Älteren ist in den letzten Jahren ein signifikanter Anstieg festzustellen, der auch für die Umkehrung des Wanderungssaldos zwischen beiden Ländern ab 2017 verantwortlich gezeichnet hat. Bei den anderen, quantitativ bedeutsameren Altersgruppen ist dagegen keine klare Tendenz erkennbar. Auffallend ist allenfalls die relativ hohe Anzahl von Zuwanderungen in den drei Altersgruppen von 18 bis unter 50 Jahren zu Beginn der 1990er-Jahre.
Anders sieht es bei den Umzügen von Thüringen nach Baden-Württemberg aus: Die Abwanderungen aus Thüringen blieben bei den 65-Jährigen und Älteren über die Jahre auf niedrigem Niveau recht konstant, bei den 50- bis unter 65-Jährigen waren sie in der Tendenz rückläufig. Unter Einbeziehung der genannten Entwicklung dieser Altersgruppen bei den Zuwanderungen nach Thüringen scheint dieses Land also für Senioren attraktiver zu sein als Baden-Württemberg; die Motive können persönlicher Natur oder auf geringere Lebenshaltungskosten in Thüringen zurückzuführen sein.
Entscheidend für den Binnenwanderungssaldo ist jedoch Umfang und Entwicklung der Umzüge von Thüringen nach Baden-Württemberg bei den jüngeren Jahrgängen, die das in Schaubild 3 wiedergegebene Bild der Gesamtwanderung weitgehend allein bestimmen. Bei den unter 18-Jährigen war der Anteil in den ersten Jahren nach der Grenzöffnung (1991 bis 1996) im Zuge einer Übersiedlung vieler junger Familien mit 21 % bis 26 % besonders hoch, ging in den Folgejahren aber zurück. Ein starkes Gewicht hatte über die Jahre hinweg die Altersgruppe der 18- bis unter 25-Jährigen: Im Jahr 1991 war ihr Anteil an den gesamten Umzügen von Thüringen nach Baden-Württemberg mit 35 % sehr umfangreich, er hat sich bis 1996 auf rund ein Viertel reduziert und ist in den Folgejahren innerhalb des Rahmens von einem Viertel bis gut einem Drittel geblieben. Besonders hohe Zuwanderungen haben wieder in den Jahren 1999 bis 2008 stattgefunden, als der Arbeitskräftebedarf der baden-württembergischen Wirtschaft infolge eines wirtschaftlichen Aufschwungs besonders ausgeprägt war. Ein ähnliches Bild ergibt sich für die Altersjahrgänge der 25- bis unter 30-Jährigen und der 30- bis unter 50-Jährigen, die ebenfalls zu der erwerbsaktiven Bevölkerungsgruppe gehören.
Geburten
Aus den Zahlen wird deutlich: Der umfangreiche Bevölkerungsrückgang in Thüringen bzw. in Ostdeutschland bei gleichzeitigem Bevölkerungszuwachs in Baden-Württemberg und in Westdeutschland, insbesondere in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung, ist auf immense Wanderungsbewegungen von Ost- nach Westdeutschland zurückzuführen. Hinzu kommt eine in den Anfangsjahren deutlich gesunkene Zahl an Geburten in den neuen Ländern.
Für Baden-Württemberg und Thüringen ist die Entwicklung seit 1991 in Tabelle 3 wiedergegeben. Danach ist die Anzahl der Lebendgeborenen in Baden-Württemberg, ausgehend von 118 580 Geborenen im Jahr 1990, zunächst moderat, dann aber etwas stärker auf 88 820 Geborene im Jahr 2011 zurückgegangen – das ist die geringste Anzahl im gesamten Betrachtungszeitraum und ein Viertel weniger als 1990. Im Anschluss erfolgte ein recht steiler Anstieg – 2021 wurde mit 113 530 Geborenen das Niveau des Jahres 1996 fast wieder erreicht. Der Anteil Baden-Württembergs an der Anzahl aller Lebendgeborenen in Deutschland hat sich über die Jahre hinweg in relativ engen Bandbreiten bewegt (13,4 % bis 14,4 %). Die Schwankungen der Anteilswerte erklären sich zu großen Teilen durch die Entwicklung in Ostdeutschland, wo die Geburten nach 2000 wieder kräftig zu-, nach 2016 aber wieder merklich abgenommen haben.
Ein gutes Beispiel hierfür ist Thüringen. Wie in allen ostdeutschen Ländern war bereits 1991 ein kräftiger Einbruch der Geburten festzustellen: Die Anzahl der Lebendgeborenen hat sich gegenüber 1990 mit damals 28 780 Geborenen auf 17 470 Geborene und damit innerhalb eines Jahres um etwa zwei Fünftel verringert. Im Zuge der Abwanderung junger Menschen, aber auch starker Verunsicherungen und Zukunftsängste der Menschen im Beitrittsgebiet hat sich die Zahl der Lebendgeborenen weiter reduziert; der Tiefpunkt in Thüringen wurde 1994 mit 12 720 Geborenen und damit 56 % weniger als 1990 erreicht. Danach ging es zunächst ziemlich stetig aufwärts bis auf 18 480 Lebendgeborene im Jahr 2016, womit aber immer noch über ein Drittel weniger Geburten registriert wurde als 1990. Im Anschluss hat sich die Zahl der Lebendgeborenen aber wieder deutlich verringert und 2021 mit 15 380 Geborenen das relativ niedrige Niveau des Jahres 1996 fast wieder erreicht. Der Anteil Thüringens an der Gesamtzahl aller in Deutschland Lebendgeborenen hat sich nach 2,1 % im Jahr 1991 über 1,9 % (1996) bis auf 2,6 % (2011) zunächst recht deutlich erhöht, ist danach aber wieder auf 1,9 % im Jahr 2021 zurückgefallen. Bemerkenswert sind nicht nur die ausgeprägten Schwankungen der Anteilswerte im Zeitablauf, sondern auch die bereits angedeutete spiegelbildliche Entwicklung im Vergleich zu Baden-Württemberg.
Es gibt zwei wesentliche Ursachen für die Unterschiede in der Geburtenentwicklung in Baden-Württemberg und in Thüringen. Zum einen sind, wie bei der Kommentierung von Tabelle 2 für Baden-Württemberg und Thüringen ausgeführt, gerade in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung viele junge Menschen, teilweise mit Kindern, von Ost- nach Westdeutschland gezogen. Dadurch hat sich die Altersstruktur dauerhaft verschoben mit dem Ergebnis, dass eine merkliche Anzahl von Menschen im Alter der Familiengründungsphase nun in West- und nicht mehr in Ostdeutschland lebt.
Zum zweiten, und das ist für den jährlichen Verlauf auschlaggebend, hat sich die zusammengefasste Geburtenziffer sehr unterschiedlich entwickelt. Die zusammengefasste Geburtenziffer gibt die durchschnittliche Kinderzahl an, die eine Frau im Laufe ihres Lebens hätte, wenn die Verhältnisse des betrachteten Jahres von ihrem 15. bis zu ihrem 49. Lebensjahr gelten würden. Sie wird durch Addition der altersspezifischen Geburtenhäufigkeiten des betreffenden Jahres für die Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren ermittelt. Die Ziffer ist insofern frei von Einflüssen der jeweiligen Altersstruktur der weiblichen Bevölkerung und ergänzt so die genannten Einwirkungen der nach Altersklassen differenzierten Binnenwanderung.
Nach einer Auswertung des Statistischen Bundesamtes6 hat 1990 die zusammengefasste Geburtenziffer in der Dimension »Kinderzahl je Frau« in Ostdeutschland mit 1,52 diejenige in Westdeutschland in Höhe von 1,45 noch übertroffen, ging im Anschluss aber viel stärker zurück. 1995 lag sie mit 0,84 nicht nur um 45 % unter dem Wert von 1990, sondern auch deutlich niedriger als die Ziffer Westdeutschlands mit 1,34. Auch danach blieb die Geburtenziffer in Westdeutschland mit 1,41 (2000) und 1,36 (2005) zunächst über den Vergleichswerten in Ostdeutschland mit 1,21 bzw. 1,30. Ab 2010 hat aber die Geburtenziffer Ostdeutschlands diejenige Westdeutschlands zunächst übertroffen, bis 2015 um jeweils 0,06 bis 0,08 Punkte. Im Jahr 2016 wurde sowohl in Ostdeutschland mit 1,64 als auch in Westdeutschland mit 1,60 die höchste zusammengefasste Geburtenziffer erzielt. Danach erfolgte in Ostdeutschland ein etwas stärkerer Rückgang als in Westdeutschland, und 2021 war die Geburtenziffer im Westen mit 1,60 erstmals wieder merklich höher als im Osten mit 1,54.
2021 hat Baden-Württemberg hinter Niedersachsen die höchste zusammengefasste Geburtenziffer (1,63) erzielt, während Thüringen (1,53) insoweit nur Berlin, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und das Saarland hinter sich gelassen hat.
Beteiligung am Erwerbsleben
Die genannten Verschiebungen in der Altersstruktur zwischen Ost- und Westdeutschland im Zuge der Ost-West-Binnenwanderungen haben außerdem erhebliche Auswirkungen auf die Beteiligung der Menschen am Erwerbsleben in beiden Gebieten. In Tabelle 4 sind die Daten zum Erwerbsleben für Baden-Württemberg und Thüringen zusammengestellt, sie basieren auf den Erhebungen des Mikrozensus bzw. der EG-Stichproben über Arbeitskräfte. Die Definitionen werden im i-Punkt »Definitionen und Begriffsbestimmungen« näher erläutert.
Auffallend ist zunächst ein kontinuierlicher Bevölkerungs- und Erwerbspersonenzuwachs in Baden-Württemberg und ein ebenso kontinuierlicher Bevölkerungs- und Erwerbspersonenrückgang in Thüringen. Vor allem aber hat sich durch die erwähnte Konzentration der Ost-West-Umzüge auf Altersjahrgänge im erwerbsfähigen Alter ein überproportionales Auseinanderdriften bei den Erwerbspersonen eingestellt. Im Zeitraum 1991 bis 2021 hat in Baden-Württemberg die Zahl der Erwerbspersonen mit +20,6 % deutlich stärker zugenommen als die Zahl der Einwohnerinnen und Einwohner mit +12,2 %, und umgekehrt hat sich in Thüringen die Zahl der Erwerbspersonen mit −26,2 % erheblich kräftiger verringert als die Bevölkerung mit −19,7 %. Dementsprechend ist die Erwerbsquote, also der Anteil der Erwerbspersonen an der ortsansässigen Bevölkerung, in Baden-Württemberg kontinuierlich angestiegen (von 50,6 % im Jahr 1991 auf 54,4 % im Jahr 2021), in Thüringen tendenziell gesunken (von 55 % im Jahr 1991 auf 50,5 % im Jahr 2021). Trotzdem, und das ist genauso bemerkenswert, blieb die Erwerbsquote in Thüringen bis 2011 über derjenigen in Baden-Württemberg. Dies dürfte hauptsächlich auf die traditionell deutlich höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen in der früheren DDR zurückzuführen sein, die offensichtlich nach der Wende noch angehalten hat.
Nach den Daten des Mikrozensus hat sich nach der Wiedervereinigung die Zahl der in Baden-Württemberg wohnenden Erwerbstätigen ziemlich parallel zur Zahl der Erwerbspersonen entwickelt, der Zuwachs von 1991 auf 2021 betrug jeweils +20,6 %. Der Anteil der Erwerbslosen an der Bevölkerung war 2021 mit 1,8 % ähnlich niedrig wie 1991 mit 1,6 %; vor allem aus konjunkturellen Gründen haben sich während dieser gut 30 Jahre teilweise höhere Erwerbslosenquoten eingestellt, beispielsweise 1996 mit 3,4 %. In Thüringen stellt sich die Situation ganz anders dar: Schon 1991 war die Erwerbslosenquote mit 6,5 % merklich größer als in Baden-Württemberg und hat sich bis 1996 noch einmal auf 9,5 % erhöht. Oder von einer anderen Seite betrachtet: Die Zahl der in Thüringen wohnenden Erwerbstätigen hat sich 1996 gegenüber 1991 um 177 000 Personen oder 14,1 % verringert, der Anteil der Erwerbstätigen an der Wohnbevölkerung ist von 48,4 % auf 43,3 % zurückgegangen. Danach hat sich jedoch eine merkliche Entspannung eingestellt: Der Rückgang der Erwerbstätigenzahlen hat sich abgeflacht, die Erwerbslosenquote ist ziemlich stetig gesunken und hat 2021 mit nur noch 1,7 % sogar den Wert für Baden-Württemberg knapp unterschritten. Allerdings konnte der Anteil der Erwerbstätigen an der Bevölkerung in Thüringen 2021 mit 48,8 % das Niveau von 1991 mit 48,4 % nur leicht übertreffen, während für Baden-Württemberg in diesem Zeitraum eine Zunahme von 49 % auf 52,6 % ermittelt wurde. Die Abweichungen hängen letztlich mit den Unterschieden in den Erwerbsquoten zusammen, die auf die erwähnten Verschiebungen in der Altersstruktur beider Länder zurückzuführen sind. Der Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung ist in Thüringen signifikant höher als in Baden-Württemberg.
Erwerbstätigkeit
In Tabelle 5 ist die Entwicklung der Zahl der Erwerbstätigen in Baden-Württemberg und Thüringen dargestellt,7 und zwar nach dem Konzept der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR), das im i-Punkt »Definitionen und Begriffsbestimmungen« näher erläutert ist. Dadurch bestehen konzeptionelle Abweichungen zu den in Tabelle 4 dargestellten, über den Mikrozensus erhobenen Erwerbstätigenzahlen. Über erhebungs- bzw. ermittlungstechnische Unterschiede hinaus ist zu beachten, dass die in Tabelle 5 dargestellten Erwerbstätigen dem Arbeitsort zugeordnet sind, während die in Tabelle 4 aufgeführten Erwerbstätigen, wie alle dort zusammengestellten Indikatoren, am Wohnort gezählt werden. Diese inhaltlichen Unterschiede spielen bei umfangreichen Berufspendlersalden eine erhebliche Rolle, so auch im Falle von Baden-Württemberg und Thüringen. Tatsächlich liegen die Zahlen der in Tabelle 5 dargestellten Erwerbstätigen am Arbeitsort Baden-Württemberg über die Jahre hinweg deutlich über den in Tabelle 4 aufgeführten Erwerbstätigen am Wohnort Baden-Württemberg, was den großen Saldo an Berufseinpendelnden in den Südwesten widerspiegelt. Umgekehrt verhält es sich bei Thüringen, das einen Saldo an berufsbedingt Auspendelnden in andere Länder aufweist.8
Die Entwicklung beider Erwerbstätigenziffern ist weitgehend parallel verlaufen: Im Zeitraum 2021 gegenüber 1991 hat sich in Baden-Württemberg bei den über den Mikrozensus erfassten Erwerbstätigen am Wohnort (Tabelle 4) eine Zunahme um 20,6 % ergeben, bei den im Rahmen der VGR ermittelten Erwerbstätigen am Arbeitsort (Tabelle 5) ein Anstieg um 21,9 %. In Thüringen stehen sich Abnahmen um 19,2 % (Mikrozensus/Wohnort) und 17 % (VGR/Arbeitsort) gegenüber.
Die jährliche Entwicklung der Erwerbstätigen an den Arbeitsorten Baden-Württemberg und Thüringen bzw. West- und Ostdeutschland geht aus Schaubild 4 hervor. Auffallend ist vor allem der kräftige Rückgang der Erwerbstätigkeit in Ostdeutschland und in Thüringen zwischen 1991 und 1992: Ostdeutschland hat innerhalb eines Jahres 824 800 der bisher dort erwerbstätigen Personen verloren, das entspricht einem Rückgang um 12,1 %. Ein Teil dieser zuvor im Osten erwerbstätigen Menschen hat einen Arbeitsplatz in Westdeutschland gefunden, die Zahl der dort Erwerbstätigen ist von 1991 auf 1992 um 340 900 Menschen oder um 1,1 % angestiegen. Überdies zeigt die Wanderungsstatistik für die ersten beiden Jahre nach der Wiedervereinigung die umfangreichsten Umzüge von Ost- nach Westdeutschland (Schaubild 2). Ein nicht geringer Teil der 1991 noch in Ostdeutschland erwerbstätigen Männer und Frauen hat sich jedoch in der Arbeitslosigkeit wiedergefunden: Zwischen 1991 und 1992 hat sich die Zahl der registrierten Arbeitslosen in Ostdeutschland um 273 600 Menschen auf 1,279 Mill. Personen erhöht, das ist der höchste Arbeitslosenstand in den neuen Ländern. Allerdings ist in diesem Zeitraum auch die Arbeitslosenzahl im früheren Bundesgebiet angestiegen, wenn auch deutlich geringer um 102 800 Personen auf 1,699 Mill. Arbeitslose.
In Thüringen ist der Rückgang der dort beschäftigten Erwerbstätigen zwischen 1991 und 1992 mit −14,7 % noch drastischer ausgefallen als in Ostdeutschland, 180 800 Menschen haben ihren Arbeitsplatz verloren. Die Erwerbstätigenzunahme in Baden-Württemberg belief sich auf 56 700 Personen, das sind (wie in Westdeutschland) +1,1 %.
Von 1992 auf 1993 hat sich in West- und Ostdeutschland wie auch in Baden-Württemberg und Thüringen eine leichte Abnahme der Erwerbstätigkeit eingestellt. Bis 1995 sind im Zuge eines Zwischenhochs die Erwerbstätigenzahlen in Ostdeutschland und in Thüringen merklich angestiegen, aber in Westdeutschland und in Baden-Württemberg leicht zurückgegangen. Danach ging es in Westdeutschland und in Baden-Württemberg bis 2001/2002 kontinuierlich nach oben, während in Ostdeutschland und Thüringen, nach ausgeprägten Schwankungen und einem konjunkturbedingen Rückgang nach 1999, im Jahr 2002 das Niveau von 1993 ungefähr wieder erreicht wurde. Die nachfolgende Erholung verlief dann in den vier Vergleichsgebieten bis 2008 recht parallel. Im Anschluss hat sich bis 2018/2019 in Westdeutschland und in Baden-Württemberg ein ausgesprochen kontinuierlicher Erwerbstätigenaufbau eingestellt, während vor allem in Thüringen der Erwerbstätigenstand stagniert hat. Der anschließende Rückgang der Erwerbstätigkeit bis 2021 war dann in Ostdeutschland und insbesondere in Thüringen wieder ausgeprägter als im Westen.
Betrachtet man die ökonomischen Hintergründe, ist es keinesfalls so, dass im Osten nach der Wiedervereinigung kein wirtschaftlicher Aufbau stattgefunden hat. So ist im Zeitraum 1991 bis 2005 das reale, also preisbereinigte Bruttoinlandsprodukt in Ostdeutschland um stattliche 65,8 % und in Thüringen sogar um 79,8 % angestiegen, in Westdeutschland und in Baden-Württemberg ist das Wirtschaftswachstum mit jeweils +14,9 % deutlich geringer ausgefallen. Im sich anschließenden Zeitraum 2005 bis 2021 ist dann das Wachstum mit +20,7 % in Westdeutschland und +25,8 % in Baden-Württemberg etwas kräftiger gewesen als in Ostdeutschland mit +18,6 % und in Thüringen mit +17,1 %.9 Dass die Erwerbstätigenentwicklung im Osten mit der starken gesamtwirtschaftlichen Aufbauphase nicht Schritt halten konnte, ist durch eine im Zuge der technologischen und wirtschaftlichen Transformation erfolgte massive Produktivitätssteigerung zu erklären. Allein zwischen 1991 und 1994 ist die Arbeitsproduktivität, gemessen am realen Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigen, in Ostdeutschland um 56,5 % und in Thüringen sogar um 73,1 % angestiegen, während sie in Baden-Württemberg und in Westdeutschland stagniert hat. Zwischen 1991 und 2005 waren es in Ostdeutschland +98,9 % und damit mehr als elfmal so viel wie in Westdeutschland mit +8,8 %, und in Thüringen mit +118,5 % sogar 16-mal so viel wie in Baden-Württemberg mit +7,6 %. Nach 2005 lagen die Veränderungsraten der Arbeitsproduktivität in den vier Vergleichsgebiete wieder näher beieinander. Dennoch beliefen sich im gesamten Zeitraum 1991 bis 2021 die Produktivitätssteigerungen in Ostdeutschland mit +115,8 % auf das 8,1-fache der entsprechenden Ausweitungen in Westdeutschland mit +14,3 %. Und in Thüringen war es mit +153,7 % das 8,3-fache im Vergleich zu Baden-Württemberg mit +18,5 %.
Arbeitslosigkeit
Der Arbeitsplatzabbau in Ostdeutschland und Thüringen hat erhebliche Auswirkungen auf die Erwerbs- und Arbeitslosigkeit. Dies geht bereits aus den Erwerbslosenzahlen für Thüringen hervor, die in Tabelle 4 für ausgewählte Jahre wiedergegeben wurden. Betrachtet man die Erwerbslosenquote als Anteil der Erwerbslosen an der Bevölkerung in allen Jahren, so wurden in Thüringen in den Jahren 1993 und 1998 mit 10 % ausgesprochen hohe Werte ermittelt, 1991 waren es noch 6,5 %. Zum Vergleich: In Baden-Württemberg waren es 1,6 % im Jahr 1991, dann 3 % im Jahr 1993 und 3,6 % im Jahr 1998.
Für die Jahre 1991 bis 1993 sind Arbeitslosenquoten in der Definition »Arbeitslose je abhängige zivile Erwerbspersonen« für die beiden Teilgebiete Deutschlands verfügbar. Die so definierte Arbeitslosenquote ist in Westdeutschland (ohne Berlin) von 6,2 % im Jahr 1991 über 6,4 % und 8 % in den Jahren 1992 und 1993 auf 9 % im Jahr 1994 angestiegen. In Ostdeutschland (mit Berlin) war das Niveau deutlich höher, außerdem der Anstieg, ausgehend von 10,2 % im Jahr 1991 über 14,4 % (1992) und 15,4 % (1993) bis 15,7 % im Jahr 1994 etwas steiler.
Für die Jahre ab 1994 liegen Arbeitslosenquoten in der Definition »Arbeitslose je zivile Erwerbspersonen insgesamt« für alle Länder vor. Die so bestimmte Arbeitslosenquote ist im i-Punkt »Definitionen und Begriffsbestimmungen« naher erläutert, die Zahlen für West- und Ostdeutschland bzw. Baden-Württemberg und Thüringen finden sich für den Zeitraum 1994 bis 2022 in Schaubild 5. Im ersten dort aufgezeichneten Jahr 1994 waren die Arbeitslosenquoten in Thüringen (15,6 %) und in Ostdeutschland mit Berlin (14,8 %) ungefähr doppelt so hoch wie in Baden-Württemberg (6,7 %) und in Westdeutschland ohne Berlin (8,1 %). Nach einem Rückgang im Jahr 1995 auf 14,1 % in Thüringen bzw. 13,9 % in Ostdeutschland folgte bis 1997 ein deutlicher Anstieg auf 17,8 % in Thüringen und 17,7 % in Ostdeutschland. Während damit für Thüringen bereits die höchste Quote erreicht würde, ging es in Ostdeutschland mit Unterbrechungen weiter nach oben bis auf 18,7 % im Jahr 2005. Überhaupt hat sich die Arbeitslosigkeit in Thüringen danach günstiger entwickelt und lag, bei ansonsten parallelem Verlauf, immer unter dem Niveau in Ostdeutschland. 2022 erreichte die Arbeitslosenquote in Thüringen den (vorläufigen) Tiefpunkt mit 5,3 % gegenüber 6,7 % in Ostdeutschland.
In Westdeutschland und in Baden-Württemberg ist die Arbeitslosenquote über die Jahre hinweg, trotz deutlich ausgeprägter konjunktureller Schwankungen, insgesamt gesehen ruhiger verlaufen und immer unter dem Niveau von Ostdeutschland und Thüringen geblieben. Im Zeitraum 1998 bis 2005 betrugen die Abstände zwischen Ost- und Westdeutschland 8,6 Prozentpunkte (1998) bis 10,2 Prozentpunkte (2001 und 2002), zwischen Thüringen und Baden-Württemberg 8,9 Prozentpunkte (1999) und 10,5 Prozentpunkte (2002 bis 2004). Danach hat sich im Zuge einer unübersehbaren Entspannung im Osten eine schrittweise Annäherung ergeben – in den Jahren 2020 bis 2022 lagen die Arbeitslosenquoten in Thüringen nur noch um 0,2 bis 0,4 Prozentpunkte höher als in Westdeutschland; gegenüber Baden-Württemberg haben sich die Unterschiede auf 1,7 bis 1,9 Prozentpunkte verringert. Auffallend ist schließlich, dass im Rahmen der unterschiedlichen Trends die konjunkturbedingten Schwankungen schon ab 1997, besonders deutlich aber ab 2001 in Ost- und Westdeutschland bzw. in Thüringen und in Baden-Württemberg etwa gleich ausgeprägt waren.
Unter allen Ländern haben Bayern und Baden-Württemberg im gesamten Betrachtungszeitraum die geringsten Arbeitslosenquoten aufgewiesen, in den Jahren 2001 bis 2008 waren sie in Baden-Württemberg sogar am niedrigsten. Im Osten wurden unter den Flächenländern in den Jahren 1994 bis 1997 in Brandenburg und in Sachsen und außerdem in Berlin die geringsten Arbeitslosenquoten gemessen, ab 1998 war Thüringen das ostdeutsche Land mit den niedrigsten Arbeitslosenquoten. Auch gegenüber den westdeutschen Flächenländern Nordrhein-Westfalen (ab 2013) und Saarland (ab 2016) sowie den beiden anderen Stadtstaaten Bremen (ab 2008) und Hamburg (ab 2016) hat Thüringen insoweit besser abgeschnitten. Das gute Ranking Thüringens wird allerdings durch die Nähe zu den westdeutschen Ländern Niedersachsen, Hessen und Bayern begünstigt, in denen viele Berufspendelnde mit Wohnsitz in Thüringen Arbeit finden. Aus diesen Gründen werden seit langem in den Landkreisen Eichsfeld, Wartburgkreis, Schmalkalden-Meiningen, Hildburghausen, Sonneberg und Saale-Holzland-Kreis mit die niedrigsten Arbeitslosenquoten Thüringer Kreise registriert.
Zusammenfassung
Wachsen die bis 1990 getrennten Teile Deutschlands nach über 30 Jahren inzwischen zusammen? Oder haben sich Unterschiede verfestigt? Diesen Fragen wird im vorliegenden Beitrag mit besonderem Blick auf die beiden Länder Baden-Württemberg und Thüringen anhand demografischer und ökonomischer Eckdaten nachgegangen.
Zwischen 1991 und 2021 hat, wesentlich bedingt durch umfangreiche Ost-West-Binnenwanderungen, in Westdeutschland eine Bevölkerungszunahme (+8,2 %) und in Ostdeutschland ein Bevölkerungsrückgang (−14,7 %) stattgefunden; innerhalb beider Teilgebiete war der Bevölkerungsaufbau in Baden-Württemberg mit +12,2 % überdurchschnittlich stark ausgeprägt, ebenso der Bevölkerungsabbau in Thüringen mit −18,4 %. Die Umzüge von Ost- nach Westdeutschland waren vor allem in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung (1991: 229 200 Personen), außerdem im Zuge eines wirtschaftlichen Aufschwungs in Westdeutschland um die Jahrtausendwende (2001: 192 000 Personen) besonders umfangreich. Danach haben sie stetig abgenommen und sich inzwischen bei unter 90 000 Personen pro Jahr eingependelt. Dagegen haben sich die Umzüge von West- nach Ostdeutschland ab 1992 auf deutlich niedrigerem Niveau und vor allem in sehr engen Bandbreiten (zwischen 83 000 und 100 000 Personen) bewegt, wodurch sich in den letzten Jahren sogar ein leichter Wanderungsgewinn der neuen Länder eingestellt hat. Die Wanderungsbewegungen haben sich also deutlich normalisiert, es hat eine Annäherung stattgefunden. Dennoch: Im Zeitraum 1990 bis 2021 hat Westdeutschland durch Binnenwanderung netto 1,57 Mill. neue Einwohnerinnen und Einwohner aus Ostdeutschland gewonnen, das sind immerhin 10,6 % bezogen auf die Bevölkerungszahl Ostdeutschlands im Jahr 1991 und entspricht mehr als der Zahl der Einwohnerinnen und Einwohner Münchens (1,49 Mill.).
Thüringen hat, gemeinsam mit Sachsen-Anhalt, über die Jahre hinweg besonders viele Einwohnerinnen und Einwohner verloren – und zwar nicht nur an westdeutsche Länder wie vor allem Bayern und Hessen, aber auch Baden-Württemberg, sondern ebenso an ostdeutsche Länder, insbesondere Sachsen. In den letzten Jahren war jedoch auch in Thüringen der Wanderungssaldo zu einzelnen westdeutschen Ländern ausgeglichen oder leicht positiv. Baden-Württemberg hat seit der Wiedervereinigung zahlreiche ehemalige Bürgerinnen und Bürger ostdeutscher Länder aufgenommen.
Die Wanderungsbewegungen zwischen Baden-Württemberg und Thüringen entsprechen ziemlich genau dem Muster der Ost-West-Binnenwanderungen: Umfangreiche Fortzüge aus Thüringen nach Baden-Württemberg vor allem 1991 (7 460 Personen) und um die Jahrtausendwende (2001: 6 170 Personen), relativ gleichbleibende Fortzüge aus Baden-Württemberg nach Thüringen (zwischen knapp 2 000 und gut 3 000 Personen) und ein zuletzt ausgeglichener oder sogar leicht positiver Wanderungssaldo Thüringens.
Auffallend bei den Umzügen von Ost- nach Westdeutschland ist die Konzentration auf jüngere Altersgruppen. Beispielsweise waren in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung gut ein Fünftel bis über ein Viertel aller von Thüringen nach Baden-Württemberg umgezogenen Menschen jünger als 18 Jahre, und über die Jahre hinweg machten die 18- bis unter 25-Jährigen ein Viertel bis ein Drittel der Übersiedlerinnen und Übersiedler von Thüringen nach Baden-Württemberg aus. Der Zuzug dieser und weiterer erwerbsaktiver Altersgruppen in den Südwesten war vor allem in wirtschaftlichen »Boomjahren« recht ausgeprägt. Die damit einhergehenden Verschiebungen in der Altersstruktur beider Länder haben Auswirkungen auf wichtige Lebensbereiche.
So hat sich durch den Umzug von Kindern bzw. jungen Menschen der Anteil von Frauen und Männern im Alter der Familiengründungsphase im Westen dauerhaft erhöht, im Osten verringert. Darüber hinaus hat sich die zusammengefasste Geburtenziffer, die 1990 in Ostdeutschland noch höher lag als in Westdeutschland (1,52 gegenüber 1,45 Geburten je Frau), unmittelbar nach der Wende in Ostdeutschland fast halbiert und 1995 mit 0,84 den Wert in Westdeutschland (1,34) deutlich unterboten. Diese Diskrepanz hat sich in den Folgejahren zwar verringert und in einzelnen Jahren sogar umgekehrt, inzwischen liegt der Westen aber wieder vorne. Im Ergebnis hat die Zahl der Lebendgeborenen zwischen 1990 und 2021 in Baden-Württemberg lediglich um 4,2 %, in Thüringen aber um stattliche 46,6 % abgenommen.
Die Veränderungen im Altersaufbau im Zuge der Ost-West-Binnenwanderungen haben sich außerdem auf die Beteiligung der Menschen am Erwerbsleben ausgewirkt. Zwischen 1991 bis 2021 hat die Zahl der Erwerbspersonen in Baden-Württemberg (+20,6 %) deutlich stärker zugenommen als die Bevölkerung (+12,2 %), in Thüringen war die Entwicklung mit einem Erwerbspersonenrückgang um 26,2 % bei einem Bevölkerungsabbau um 19,7 % gerade umgekehrt. Dementsprechend hat in diesem Zeitraum die Erwerbsquote in Baden-Württemberg tendenziell zu-, in Thüringen tendenziell abgenommen.
Ein beträchtlicher Teil der in Thüringen lebenden Menschen im erwerbsfähigen Alter geht seiner täglichen Arbeit in einem anderen Land nach. Die Zahl der in Thüringen wohnenden Berufspendlerinnen und Berufspendler ist, durch die Nähe zu benachbarten westdeutschen Ländern, sogar recht hoch. Umgekehrt verhält es sich in Baden-Württemberg mit einem starken Sog an einpendelnden Beschäftigten. Die Erwerbstätigen am Arbeitsort haben im Zeitraum 1991 bis 2021 in Baden-Württemberg um 21,9 % zu-, in Thüringen um 17 % abgenommen. Dabei hat sich in Thüringen allein zwischen 1991 und 1993 mit −16,6 % bzw. einem Arbeitsplatzabbau um 203 500 Menschen ein besonders starker Rückgang der Erwerbstätigenzahlen eingestellt. Nach verschiedenen Auf- und Abschwungphasen wurde 2021 mit 1,02 Mill. Erwerbstätigen der Stand von 1993 fast wieder erreicht. In Baden-Württemberg hat die Zahl der Erwerbstätigen im Rahmen konjunktureller Schwankungen von 1991 bis 2021 um 21,9 % zugenommen, begünstigt durch den Zustrom zahlreicher Menschen, die zuvor in Ostdeutschland gelebt und gearbeitet haben.
Obwohl der drastische Arbeitsplatzabbau in Ostdeutschland durch den Umzug erwerbsfähiger Menschen in westdeutsche Länder bzw. ins Ausland abgemildert wurde, ist die Arbeitslosigkeit im Osten erheblich angewachsen. Die Arbeitslosenquoten betrugen 1994 in Thüringen (15,6 %) und in Ostdeutschland (14,8 %) ungefähr das Doppelte wie in Baden-Württemberg (6,7 %) bzw. in Westdeutschland (8,1 %). Die höchste Arbeitslosenquote wurde in Thüringen 1997 mit 17,8 % erreicht, in Ostdeutschland 2005 mit 18,7 %. Danach erfolgte im gesamten Osten im Zuge gesamtwirtschaftlicher Verbesserungen eine merkliche Entspannung mit einer Arbeitslosenquote 2022 in Thüringen von 5,3 % und in Ostdeutschland von 6,7 %. Seit 1998 kann Thüringen die geringste Arbeitslosenquote aller ostdeutschen Länder für sich verbuchen. In Westdeutschland und in Baden-Württemberg sind die Arbeitslosenquoten immer niedriger gelegen als in Ostdeutschland bzw. in Thüringen. Zuletzt haben sich jedoch die Abstände von Thüringen zu Westdeutschland auf 0,3 Prozentpunkte und zu Baden-Württemberg auf 1,8 Prozentpunkte im Jahr 2022 erheblich verringert.
In der Gesamtbetrachtung kann festgestellt werden: Es gibt Bereiche, bei denen sich Ost- und Westdeutschland bzw. Thüringen und Baden-Württemberg nach anfangs erheblichen Unterschieden deutlich angeglichen haben, so beim Saldo der Binnenwanderungen und bei der Arbeitslosenquote. Gleichwohl haben die Netto-Abwanderungen über die Jahre in Ostdeutschland eine beträchtliche Lücke hinterlassen: Nicht nur in der beachtlichen Größenordnung von 1,57 Mill. Menschen, sondern auch in der Verschiebung der Altersstruktur mit Gewinnen Westdeutschlands an jungen Menschen im Alter der Familiengründung und der Erwerbsfähigkeit. Innerhalb Westdeutschlands hat Baden-Württemberg bei den hier untersuchten Indikatoren besser, innerhalb Ostdeutschlands hat Thüringen – abgesehen von der Entwicklung der Arbeitslosigkeit – eher schlechter abgeschnitten.