60 Jahre Anwerbeabkommen mit Marokko
Zur marokkanischen Bevölkerung in Baden-Württemberg
1952, dem Gründungsjahr des Südweststaats, lebten in Baden-Württemberg lediglich rund 60 000 Personen mit einer ausländischen Staatsangehörigkeit. Deren Zahl stieg in den folgenden 2 Jahrzehnten fast stetig an. Ursache hierfür war, dass zu dieser Zeit das sogenannte »Wirtschaftswunder« bereits in vollem Gange war. Als Folge dieser ungemein dynamischen Wirtschaftsentwicklung zeichnete sich ein allgemeiner Arbeitskräftemangel ab, der zur Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte führte. Nachdem 1955 das erste Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Italien geschlossen wurde, folgten im Jahr 1960 Abkommen mit dem Königreich Spanien und mit Griechenland sowie 1961 mit der Türkei. Am 21. Mai 1963 wurde ein entsprechendes Abkommen auch mit Marokko abgeschlossen, das sich somit zum 60. Mal jährt. Dieses Ereignis wurde zum Anlass genommen, ausgewählte Aspekte der marokkanischen Bevölkerung in Baden-Württemberg zusammenzustellen.
Das Abkommen bewirkte zunächst nur eine geringe Zuwanderung
Das 1963 mit Marokko abgeschlossene Anwerbeabkommen, das von marokkanischer Seite initiiert und von Deutschland anfangs abgelehnt wurde1, führte zunächst nur zu einer relativ geringen Zuwanderung nach Baden-Württemberg: 1970, also 7 Jahre nach Abschluss des Abkommens, lebten lediglich rund 400 marokkanische Staatsangehörige im Südwesten; zum Vergleich: Damals gab es bereits 196 000 Italienerinnen und Italiener sowie 170 000 Staatsangehörige aus dem ehemaligen Jugoslawien in Baden-Württemberg. Als ursächlich für diese relativ geringe Resonanz wurde unter anderem die ungünstige Ausgestaltung des Abkommens angesehen, das viele Einschränkungen in sich trug2, sodass das eigentliche Ziel verfehlt wurde, die illegale Einreise von Marokkanerinnen und Marokkanern zu kanalisieren.3 Bemerkenswert ist diesem Zusammenhang, dass in den 1960er- und 1970er-Jahren die inoffizielle Anwerbung durch Firmen zahlenmäßig bedeutsamer als offizielle Rekrutierungsmaßnahmen waren.4
Zu Beginn der 1970er-Jahre stieg die Zahl der marokkanischen Staatsangehörigen weiter an (Schaubild 1). Daran hatte auch die »Ölkrise« im Jahr 1973 kaum etwas geändert, obwohl versucht wurde, »Gastarbeiter« zur Rückkehr zu bewegen. Hierzu wurde beispielsweise für die im Ausland lebenden Kinder seit 1975/1976 kein Kindergeld mehr bezahlt, und ab 1978 wurden diese auch nicht mehr steuerlich berücksichtigt. Da aber die marokkanischen Migrantenfamilien in ihrer Heimat zumeist keine angemessenen Lebensgrundlagen mehr besaßen, griffen diese ursprünglich als Rückkehranreiz verstandenen Maßnahmen nicht.5 Hinzu kam, dass Marokko noch stärker als die europäischen Länder unter den hohen Ölpreisen und dem weltweiten wirtschaftlichen Abschwung litt.6 Die Zahl der marokkanischen Migrantinnen und Migranten nahm vielmehr weiter zu, weil nach dem Anwerbestopp viele ihre Familien nach Deutschland nachholten.7
Auch in den 1980er-Jahren nahm die marokkanische Bevölkerung im Südwesten wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten Marokkos sowie staatlicher Repression unter König Hassan II.8 weiter zu. Besonders stark war der Anstieg seit etwa 2011 – wohl nicht zuletzt aufgrund der günstigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Baden-Württemberg wie auch in anderen Bundesländern.
5 300 marokkanische Staatsangehörige leben im Südwesten …
Heute leben in Baden-Württemberg etwa 5 300 Marokkanerinnen und Marokkaner und damit so viele wie noch nie seit Bestehen des Südweststaats.9 Dennoch ist diese Nationalität in Baden-Württemberg im Vergleich zu Hessen und vor allem zu Nordrhein-Westfalen deutlich unterrepräsentiert (Schaubild 2). Dass die mit Abstand meisten Marokkanerinnen und Marokkaner im einwohnerreichsten Bundesland leben, ist vor allem darauf zurückzuführen, dass sich die Zuwanderung in den 1960er- und 1970er-Jahren auf bestimmte Industrien, vor allem den Bergbau, konzentrierte10, und die meisten marokkanischen Migranten aus den Bergbaugebieten im Norden Marokkos stammten.11 Der Ursprung dafür, dass Hessen einen zweiten Schwerpunkt bildet, lässt sich auf einen Automobilhersteller im Raum Frankfurt zurückführen, der in der marokkanischen Region Nador Arbeitskräfte angeworben hatte.12
In den letzten Jahrzehnten hat sich allerdings die regionale Verteilung der marokkanischen Bevölkerungsgruppe innerhalb Deutschlands deutlich nivelliert, weil Einwandernde ab den 1980er-Jahren nicht mehr hauptsächlich aus den Bergbaugebieten der Rifregion13, sondern aus anderen Gegenden Marokkos und anderen Bildungsschichten kamen.14 Dadurch hat sich beispielsweise die Zahl der marokkanischen Staatsangehörigen in Baden-Württemberg gegenüber dem Jahr 2005 mehr als verdoppelt, während sie in Nordrhein-Westfalen lediglich um 5 % angestiegen ist.
… und arbeiten überwiegend im Dienstleistungssektor
Diese Entwicklung hat auch dazu geführt, dass immer mehr Marokkanerinnen und Marokkaner im Dienstleistungssektor beschäftigt sind und nicht, wie in den Anfangsjahren der Migration, vor allem im Bergbau sowie in der Textil-, Nahrungsmittel- und Chemieindustrie15, wohl aber auch in der Automobilindustrie (siehe oben). Heute arbeiten in Baden-Württemberg nur noch rund 22 % der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Marokkanerinnen und Marokkaner im Produzierenden Gewerbe. Dieser Anteil liegt damit im Südwesten sogar deutlich niedriger als bei den Ausländerinnen und Ausländern insgesamt sowie bei den Beschäftigten insgesamt (jeweils 35 %).16
Auffällig ist auch das Qualifikationsniveau der Beschäftigten: Einerseits ist der Anteil der marokkanischen Beschäftigten ohne Berufsabschluss mehr als doppelt so hoch wie bei den Beschäftigten insgesamt; andererseits besitzen überdurchschnittlich viele einen akademischen Abschluss. Das heißt, Beschäftigte mit einem anerkannten Berufsabschluss sind deutlich unterrepräsentiert.17
Deutlich mehr Geburten als Sterbefälle
Die zahlenmäßige Entwicklung der marokkanischen Bevölkerung in Baden-Württemberg wurde in den vergangenen Jahrzehnten durch die Zahl der Geburten und Sterbefälle sowie den Zu- und Fortzügen von Personen mit einer marokkanischen Staatsangehörigkeit bestimmt; darüber hinaus spielten auch die Einbürgerungen eine wichtige Rolle.
Die Geburtenzahl lag seit dem Jahr 2000 um insgesamt etwa 500 erheblich über der der Sterbefälle:18 Der Beitrag des Wanderungsgewinns zum zahlenmäßigen Anstieg der marokkanischen Bevölkerung im Südwesten war allerdings mit rund 5 400 deutlich größer; besonders hoch lag der positive Wanderungssaldo im Jahr 2021 (Schaubild 3).
Immerhin knapp 3 200 Personen mit einer marokkanischen Staatsangehörigkeit sind seit der Jahrtausendwende Deutsche geworden. Die Einbürgerungsquote19 lag damit in diesem Zeitraum annähernd viermal so hoch wie bei der ausländischen Bevölkerung insgesamt. Wenn davon ausgegangen wird, dass eine Einbürgerung ein starkes Indiz für Integration bedeutet, zeigen damit Marokkanerinnen und Marokkaner eine besonders hohe Integrationsbereitschaft.20
11 000 Personen mit marokkanischem Migrationshintergrund
Seit dem Jahr 2000 wurden also knapp 3 200 marokkanische Staatsangehörige in Baden-Württemberg eingebürgert; hinzu kamen rund 2 200 Kinder von marokkanischen Eltern, die bei der Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten haben.21 Von Interesse sind deshalb nicht nur Angaben zur Zahl der Personen mit einer marokkanischen Staatsangehörigkeit, sondern auch Informationen zur gesamten Gruppe der Baden-Württembergerinnen und Baden-Württemberger mit einem marokkanischen Migrationshintergrund. Nach den Ergebnissen des Mikrozensus waren dies in Baden-Württemberg im Jahr 2021 rund 11 000 Menschen und damit etwa doppelt so viele wie marokkanische Staatsangehörige. Der Anteil an allen Personen mit einem Migrationshintergrund lag allerdings im Südwesten bei lediglich 0,3 %.22
Marokkanerinnen und Marokkaner sind im Schnitt knapp 35 Jahre alt
Während in den 1960er- und frühen 1970er-Jahren die große Mehrheit der Arbeitskräfte, die nach Europa kamen, verheiratete oder unverheiratete Männer waren, ist der Frauen- und Kinderanteil in der marokkanischen Auswandererbevölkerung stetig angestiegen, bedingt vor allem durch Familienzusammenführung, aber auch durch die gestiegene Arbeitsmigration von Frauen.23 In Baden-Württemberg waren am Endes des Jahres 2021 von den rund 5 300 marokkanischen Staatsangehörigen immerhin 45 % weiblich.
Marokkanerinnen und Marokkaner leben im Schnitt erst seit 9 Jahren im Südwesten bzw. in Deutschland und lediglich 3 % seit mindestens 40 Jahren. Sie sind im Durchschnitt knapp 35 Jahre alt und damit jünger als die ausländische Bevölkerung insgesamt (39 Jahre). Insbesondere der Anteil der 65-Jährigen und Älteren ist bei der marokkanischen Bevölkerung deutlich geringer als bei der ausländischen Bevölkerung insgesamt und vor allem auch im Vergleich zur deutschen Bevölkerung.
Knapp 1 500 Eheschließungen zwischen deutschen und marokkanischen Staatsangehörigen seit dem Jahr 2000
Ehen zwischen Deutschen und Ausländern wurden in den vergangenen Jahrzehnten immer häufiger. Der Anteil dieser gemischtnationalen an allen Ehen, die beispielsweise 1970 in Baden-Württemberg geschlossen wurden, lag bei lediglich 7 %, im Jahr 2021 waren es immerhin bereits 15 %.
Auf Eheschließungen zwischen Deutschen und Marokkanerinnen bzw. zwischen Deutschen und Marokkanern entfiel nur ein sehr kleiner Teil dieser binationalen Ehen: Unter den insgesamt rund 180 000 Hochzeiten, die zwischen Deutschen und Ausländerinnen und Ausländern im Zeitraum 2000 bis 2021 in Baden-Württemberg geschlossen wurden, waren lediglich knapp 1 500 Ehen zwischen deutschen und marokkanischen Staatsangehörigen. Hochzeiten zwischen einer deutschen Braut und einem marokkanischen Bräutigam waren deutlich häufiger als zwischen einer marokkanischen Braut und einem deutschen Bräutigam (Schaubild 4).
Die meisten marokkanischen Staatsangehörigen leben in Stuttgart
Innerhalb des Landes verteilt sich die ausländische Bevölkerung traditionell sehr ungleichmäßig. Es ist weiterhin ein ausgeprägtes Stadt-Land-Gefälle feststellbar, das darauf zurückzuführen ist, dass Ausländerinnen und Ausländer überdurchschnittlich oft in der Nähe der Arbeitsplatzzentren und damit in den größeren Städten leben. Was die marokkanische Bevölkerung betrifft, ist es so, dass diese in den vier größten Städten des Landes sowie im Ortenaukreis mit jeweils mindestens 300 Personen am häufigsten vertreten ist (Schaubild 5). Dagegen leben in den Landkreisen Tuttlingen und Heidenheim sowie im Hohenlohe- und Alb-Donau-Kreis nur jeweils 25 Marokkanerinnen und Marokkaner.24
Fazit
Lediglich rund 5 300 Marokkanerinnen und Marokkaner leben in Baden-Württemberg. Damit sind derzeit immerhin 43 andere ausländische Staatsangehörigkeiten im Südwesten häufiger vertreten. Dennoch gibt es ein gewisses Unverständnis dafür, dass diese Bevölkerungsgruppe in der öffentlichen Wahrnehmung eher untergeht, wie insbesondere das Jubiläum zu 50 Jahre Anwerbeabkommen mit Marokko – im Gegensatz zu dem mit der Türkei – gezeigt habe: »Das marokkanische Jubiläum wird kaum wahrgenommen, als wäre es kein Teil der deutschen Geschichte. Dabei ist Erinnerungsarbeit sehr wichtig, auch wenn es um eine kleinere Community geht.«, so Karima Benbrahim, Bildungsreferentin beim Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit, in einem Interview im Jahr 2013.2526 Es bleibt zu wünschen, dass ihr Gedanke beim Jubiläum zu 60 Jahre Anwerbeabkommen mit Marokko aufgegriffen wird, da die Marokkanerinnen und Marokkaner – wie auch die anderen ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger – das Land bereichert haben und zwar nicht nur mit ihrer Arbeitskraft, sondern auch kulturell, wie beispielsweise durch den Kabarettisten Abdelkarim, Sohn marokkanischer Einwanderer.