Wohnungsbau und Wohnraumentwicklung in Baden-Württemberg 1950 bis 2020
Die Ansprüche an das Wohnen als menschliches Grundbedürfnis haben sich in den vergangenen 70 Jahren grundlegend gewandelt. Ging es in den Nachkriegsjahren vor allem darum, ein »Dach über dem Kopf« zu haben, bestimmen heute qualitative Wohnwünsche das Neubaugeschehen. Herausgegriffen sei hier als Beispiel die Verfügbarkeit ausreichender Wohnfläche. Die amtliche Statistik erfasst die Wohnverhältnisse im Lande schon seit den 1950er-Jahren und kann im langjährigen Vergleich den erstaunlichen Weg nachzeichnen, den das Land Baden-Württemberg den Wohnungsbestand betreffend seither gegangen ist. Im Folgenden wird die Entwicklung des Wohnungsbestands seit 1950 und parallel dazu der Rückgang der Personenzahl, die sich rechnerisch eine Wohnung teilen (müssen), schlaglichtartig dargestellt. Die »Belegungsdichte« liegt seit 2010 konstant bei 2,1 Personen, was die Bedeutung dieser qualitativen Aspekte im Wohnungsbau unterstreicht. Vor dem Hintergrund des Klimawandels und stark steigender Energiekosten dürfte in den nächsten Jahren die energetische Sanierung des »Altbaubestandes« zunehmend an Bedeutung gewinnen und die Bautätigkeit mehr noch als bisher beeinflussen.
Wohnen um 1950
Menschenwürdiges Wohnen als Grundbedürfnis und damit der Nachweis des aktuellen Bestands bzw. das Schaffen von ausreichendem Wohnraum war immer schon herausgehobener Gegenstand öffentlichen Interesses. Nicht umsonst stand die statistische Erfassung des Wohnungsbestandes bzw. der Bautätigkeit schon in den ersten Nachkriegsjahren (noch vor der Landesgründung 1952) wieder im Focus der amtlichen Statistik. Die Wohnsituation war in diesen Nachkriegsjahren aufgrund der Kriegszerstörungen und des Zuzugs von Heimatvertriebenen und Flüchtlingen von großer Wohnungsnot geprägt. Die erste Wohnungsbestandsaufnahme nach dem Krieg vom 29. Oktober 1946 im Südwesten wurde nur in Gebieten der amerikanisch besetzten Zone durchgeführt, wozu das 1946 gebildete Land Württemberg-Baden (ohne Südbaden und ohne Württemberg-Hohenzollern, welche französisch besetzt waren) gehörte. Damals wurde jede einigermaßen nutzbare Unterkunft in »wohnwürdigem« und auch in »wohnunwürdigem« Zustand, oft in Teilen noch zerstört, einschließlich Baracken, Gartenlauben und ähnlicher »Gebäude« zu Wohnzwecken genutzt. Leerstand gab es praktisch keinen.1 Bis zur Währungsreform Mitte Juni 1948 war durch den Währungszerfall nach 1945 und der Materialbewirtschaftung »nahezu jede Bauinitiative lahmgelegt«. Erst ab 1949 und 1950 begann langsam der Wiederaufbau.2
Eine einheitliche und umfassende Gebäude- und Wohnungszählung im Nachkriegsdeutschland war dringend erforderlich. Diese fand zusammen mit der Volkszählung am 13. September 1950 statt und gab schon ein genaueres Abbild der Unterbringung der »Wohnparteien« wie es damals hieß. Heute würden wir »Haushalte« sagen. Die Ergebnisse wurden 1953 nach der Landesgründung veröffentlicht. Sie konnten somit auch für das junge Land Baden-Württemberg aufbereitet werden (Tabelle). Der kleine Tabellenauszug soll zeigen, wie es 5 Jahre nach dem Krieg um die Wohnverhältnisse bei einer Einwohnerzahl von 6,4 Millionen (Mill.) (ohne die rund 113 000 in Anstalten lebenden Einwohner) bestellt war. Die »Wohnungen« um 1950 waren oft mit mehreren Wohnparteien (mehreren Haushalten) belegt und besaßen oft kein eigenes Bad, keine Toilette in der Wohnung und hatten unzureichende Kochgelegenheiten und Heizmöglichkeiten. Deshalb hieß es in den 1950er- und 1960er-Jahren: bauen, bauen, bauen! Die Baugenehmigungszahlen stiegen entsprechend, zunächst getragen von der öffentlichen Wohnungsbauförderung und dem Aufschwung des Bausparens.3 In den 1970er-Jahren war der dringendste Wohnraumbedarf meist gestillt, das Baugeschehen berücksichtigte zunehmend qualitative Aspekte. Hier sind zum Beispiel zunehmende Wohnflächen bei Neubauten zu nennen und mit der zunehmenden Kapitalkraft breiterer Bevölkerungsschichten ein wachsender Anteil an neuen Einfamilienhäusern mit privaten Haushalten als Bauherren. Der Höhepunkt der Baufertigstellungen im Lande wurde im Jahr 1973 mit rund 120 000 Wohnungen erreicht – diese Zahlen werden aus heutiger Sicht wohl nicht mehr erreicht werden.
Ein weiterer Höhepunkt der Baufertigstellungen war im Jahr 1994 als Reaktion auf den überdurchschnittlichen Bevölkerungszuzug in Folge der Wiedervereinigung nach 1989 mit knapp 102 000 Wohnungen zu verzeichnen. Danach gingen die Baufertigstellungen deutlich zurück und erreichten 2010 ihren bisherigen Tiefpunkt mit 24 380 Wohnungen. Seither sind die Zahlen der neu fertiggestellten Wohnungen wieder leicht angestiegen (2020 auf zum Beispiel 36 313 Wohnungen) ohne allerdings dem gleichfalls wieder zugenommenen Wohnungsneubedarf genügen zu können.4
Wohnraumentwicklung und Belegungsdichte
Der in den Wohngebäude- und Wohnungszählungen ermittelte Wohnungsbestand wird durch die laufenden Baufertigstellungen fortgeschrieben und ergibt jährlich jeweils zum Jahresende aktualisierte Wohnungsbestandszahlen.5 Inzwischen lassen sich 70 Jahre in einer sogenannten »langen Reihe« für Baden-Württemberg dokumentieren. Das Schaubild zeigt die Entwicklung des Wohnungsbestands und die sogenannte Belegungsdichte (die Bevölkerungszahl geteilt durch den Wohnungsbestand) von 1950 bis 2020.
Abgebildet wird indirekt auch die wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung Baden-Württembergs, die von zunehmendem Wohlstand in breiten Bevölkerungskreisen begleitet wurde. Die Zahl der Wohnungen verdoppelte sich von 1950 (rund 1,4 Mill.) bis 1970 auf rund 2,9 Mill.; bis 1994 hatte sich die Zahl der Wohnungen verdreifacht (4,3 Mill.). Der kleine »Bruch« in der Reihe 1986 ist den Bestandskorrekturen im Zuge der Gebäude- und Wohnungszählung 1987 geschuldet. Ende 2020 wurden in Baden-Württemberg knapp 5,4 Mill. Wohnungen gezählt. Gleichzeitig verringerte sich kontinuierlich die durchschnittliche Zahl der Personen, die rechnerisch eine Wohnung belegten – auch »Belegungsdichte« genannt – von 4,4 Personen (1950) auf 2,1 Personen (2020). Dieser Wert blieb seit 2010 konstant.
Der Wohnungsbestandszuwachs durch Neubauwohnungen in den 1950er-Jahren lässt sich natürlich nicht mit der Bauqualität der heute neu gebauten Wohnungen vergleichen. Man könnte auch sagen: das Neubaugeschehen veränderte sich im Laufe der Jahre »von der Masse zur Klasse«.6 So dürften heute auch kaum mehr zwei, drei oder gar noch weitere Haushalte (Wohnparteien) gezwungen sein, eine Wohnung zu bewohnen wie in den unmittelbaren Nachkriegsjahren – es sei denn, sie bilden eine freiwillige Wohngemeinschaft.
Die »Aufgaben« im Wohnungsbau in den 2020er-Jahren liegen zwar wieder in einer der gestiegenen Nachfrage entsprechenden Neubautätigkeit in bestimmten Regionen des Landes, wie oben schon angesprochen. Die Bauwirtschaft wird aber in den nächsten Jahren darüber hinaus vermehrt durch energetische Sanierungen im Altbestand gefordert sein. Sei es um die Verwendung erneuerbarer Energien zu fördern,7 oder sei es um die Nutzung von Heizenergie insgesamt zu reduzieren bzw. nachhaltiges Bauen weiter voranzubringen.8 Dies nachzuzeichnen, wird eine anspruchsvolle Aufgabe für die amtliche Statistik bleiben.