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Das Wohlbefinden des Kindes

Theoretische und methodische Aspekte zu Studien zum »Kindlichen Wohlbefinden«

Die Zahl der nationalen und internationalen Studien zum Wohlbefinden des Kindes (Child Well-Being) ist mittlerweile unüberschaubar. Der Beitrag behauptet und begründet, dass aus theoretischen und methodischen Gründen das Wohlbefinden des Kindes jedoch nicht gemessen werden kann. Anhand bekannter Studien zum »Kindlichen Wohlbefinden« wird gezeigt, was stattdessen wie empirisch gemessen wird. Es werden theoretische und methodische Probleme hervorgehoben und Anregungen für die Praxis von Wissenschaft und Politik angeboten.

Haben Sie schon einmal versucht, das Unmögliche zu ermöglichen? So geht es jenen, die beabsichtigen, das Wohlbefinden des Kindes zu messen. Denn wissenschaftlich betrachtet, geht es bei diesem Unterfangen um nicht weniger, als das Unzugängliche und Unbestimmbare zu messen. Nur das Extreme im persönlichen Zeichen der physisch-psychischen Verletzung, der Vernachlässigung und Misshandlung ist beobachtbar und bestimmbar, das Wohlbefinden des Kindes hingegen ist unzugänglich und unbestimmbar (siehe i-Punkt Zur Etymologie des Wortes »Wohlbefinden«). Das Extreme in den Mitteilungen des Kindes ist bestimmbar. Das Gefühl hingegen, misshandelt worden zu sein, lässt sich nicht mit Gewissheit messen.1

Trotzdem oder gerade deswegen versucht eine mittlerweile unüberschaubare Vielzahl an nationalen und internationalen Erhebungen, Indizes und Studien das kindliche Wohlbefinden zu messen, veröffentlicht in zahlreichen Fachzeitschriften, Büchern und in einem fünf Bände mit über 3 000 Seiten umfassenden »Handbook Child Well-Being«.2 Bemerkenswert ist, dass all diese Statistiken und Texte überwiegend erst in den letzten 2 Jahrzehnten entstanden sind. Dabei kann die wissenschaftliche Beschäftigung mit Kindern auf eine 200-jährige Tradition in Medizin, Pädagogik und Psychologie zurückblicken. Aber die Kinder wurden vornehmlich als »zukünftige Erwachsene« einer Gesellschaft beobachtet.3 Das wissenschaftliche Interesse an der Gegenwart der Kinder und ihrer Sicht der Dinge zeigt sich erst vermehrt ab Mitte der 1980er-Jahre, und seit Mitte der 1990er-Jahre erhalten Kinder zunehmend Gehör in den empirischen Studien.4 In dieser Zeit entstehen auch die ersten Studien, das Wohlbefinden des Kindes aus seiner Sicht zu erforschen.5

Wenn aber diese Studien aus theoretischen und methodischen Gründen nicht das Wohlbefinden des Kindes messen können, was messen sie stattdessen? Eine Antwort will das Folgende geben, indem es bekannte Studien zum »Kindlichen Wohlbefinden« vorstellt und interpretiert.

Das Konzept »Kindliches Wohlbefinden«: Operationalisierung und Messung in ausgewählten Studien

1. Was haben die Studien gemeinsam?

Das Konzept »Kindliches Wohlbefinden« beabsichtigt, die Qualität der Lebenssituationen von Kindern zu erfassen und umfasst dazu stets verschiedene Dimensionen und Indikatoren. Diese variieren in Konzeption und Anzahl je nach theoretischem Ansatz der Studien im internationalen Kontext der Forschung zu »Child Well-Being«. Die Studien unterscheiden sich außerdem darin, in welchem Ausmaß die Perspektiven der Kinder berücksichtigt werden und damit, inwieweit sie sich einem sozialwissenschaftlichen Konzept verpflichtet sehen, welches das Kind als »kompetenten Informanten« seines Erlebens begreift.6 Besonders die international vergleichenden Studien haben als Ausgangspunkt die UN-Kinderrechtskonvention von 1989 und jüngst zudem die von der UN 2015 verabschiedete Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. Sie begleiten wissenschaftlich ein Monitoring, das systematisch und regelmäßig beobachtet, ob und wie die Kinderrechte und die Ziele der nachhaltigen Entwicklung (Sustainable Development Goals) mit Blick auf die Lebenssituationen der Kinder verwirklicht werden. Dadurch sind Wissenschaft und Politik normativ »eng verwoben«. Einerseits rahmen politische Interessen normativ die Konzeption der Studien, andererseits informieren wissenschaftliche Befunde die Politik. Doch die Studien begrenzen sich nicht auf die empirischen Ergebnisse, sondern tragen mit einem advokatischen Ansinnen, die Lebenssituationen der Kinder zu verbessern, Empfehlungen und Forderungen an die Politik, Vorstellungen von »guter Kindheit« zu verwirklichen.7

Die hier ausgewählten vier großen internationalen und nationalen Berichtssysteme zum Wohlbefinden der Kinder werden von UNICEF, OECD, World Vision und Jacobs Foundation (ISCWeb) unterstützt und stehen beispielhaft dafür, was als Wohlbefinden des Kindes wie gemessen wird (siehe Übersichten 1 bis 3 mit den jeweiligen Quellenangaben; [extern-file-download: PDF-Datei, 140 KB]8). Die Übersichten der Studien informieren über zwei Sachverhalte:

(1) Die Dimensionen und Indikatoren, mit denen das Wohlbefinden der Kinder operationalisiert worden ist: Zu unterscheiden sind verschiedene »objektive« und »subjektive«, das heißt »materielle« wie auch »psychosoziale« Indikatoren individueller Lebensbedingungen. »Objektive« Indikatoren umfassen Häufigkeiten wie Anzahl von Mahlzeiten und Verhaltensrisiken und Tatsachen wie Einkommenssituation und Erwerbstätigkeit der Eltern. »Subjektive« Indikatoren umfassen Zufriedenheit etwa mit dem Leben oder persönlichen Beziehungen (siehe i-Punkt »Wohlbefinden und Well-Being: Vielheit von Definitionen«). Außerdem unterscheiden sich die Indikatoren darin, inwieweit sie primär entwicklungstheoretisch die Kinder als künftige Erwachsene kennzeichnen (well-becoming) oder sich an der Lebenssituation des Kindes im »Hier und Jetzt« orientieren (well-being). Zu den eher auf die Zukunft gerichteten Indikatoren gehören Fragen zu ökonomischen und schulischen Leistungen, zu den eher an der Gegenwart orientierten Indikatoren gehören Fragen zur Zufriedenheit mit der Beziehung zu den Eltern oder dem schulischen Leben.

(2) Die Personen, bei denen die Daten zum kindlichen Wohlbefinden erhoben werden, also die Träger der Indikatoren, die Merkmalsträger: Die Daten können indirekt erhoben oder direkt erfragt werden. Sie beziehen sich auf Kinder oder auf Erwachsene. Indirekt bei Kindern erfasst werden beispielsweise die Säuglingssterblichkeit oder die Prävalenz von gesundheitlichen Beschwerden. Direkte Angaben geben erwachsene Mitglieder eines Haushaltes sowie Kinder und Jugendliche zumeist im Alter zwischen 8 und 15 Jahren beispielsweise über die wirtschaftliche Lage der Familie und ihr Wohnumfeld oder über die schulische Situation. Wenn die persönlichen Sichtweisen der Kinder berücksichtigt werden, dann fehlen die Kinder unter 8 Jahren. Gleichzeitig fehlen die Kinder, die am stärksten von sozialer Ausgrenzung bedroht sind: Obdachlose, Heimkinder, schwerstkranke und lernbehinderte Kinder.9 Damit sind die Studien nur eingeschränkt repräsentativ in ihren Aussagen zu einem Wohlbefinden der Kinder.

2. Worin unterscheiden sich die Studien?

Die Studien berücksichtigen unterschiedlich die persönlichen Sichtweisen der Kinder und die gesellschaftlichen Kontexte. Zudem unterscheiden sich die Studien darin, dass die Daten nicht bei ein und derselben Person erhoben werden. Die Studien von UNICEF und OECD (siehe Übersichten 1 und 2; [extern-file-download: PDF-Datei, 140 KB]) erfassen das kindliche Wohlbefinden mithilfe verschiedener verfügbarer Datensätze mit Angaben von Erwachsenen und Kindern aus unterschiedlichen Stichproben. Die Studien von World Vision und ISCWeb (siehe Übersicht 3; [extern-file-download: PDF-Datei, 140 KB]) erfassen das kindliche Wohlbefinden durch ein Interview bei ein und demselben Kind. Gemeinsam ist den Studien das, was sie wie messen, wenn sie ein kindliches Wohlbefinden messen. Sie messen die Teilnahme des Kindes als Person in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft durch Mitteilung. Sie erfolgt als sogenannter »self-report« vom Erwachsenen oder vom Kind selbst oder als hochaggregierte Statistik. Auch die Bewertung der jeweiligen Teilnahme, also die Zufriedenheit mit sich und anderen Personen und Themen, gehört zur Kommunikation und damit ausschließlich zum sozialen Charakter des Individuums. Im Folgenden werden die Studien mit ihren Besonderheiten, was sie als Wohlbefinden der Kinder wie messen, kurz vorgestellt.

(1) UNICEF und OECD

Mittlerweile hat UNICEF (2007, 2013, 2020) drei Studien zum Wohlbefinden der Kinder in Staaten der OECD und der EU vorgelegt. Eine Besonderheit ist die Studie von 2017, die das Wohlbefinden der Kinder in einkommensstarken Staaten entlang von zehn der 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung der UN-Agenda 2030 überprüfte. Außerdem führte Bertram (2017, siehe Übersicht 1; [extern-file-download: PDF-Datei, 140 KB]) für das deutsche Komitee für UNICEF eine Studie zum Wohlbefinden von Kindern in Deutschland durch, auch in der Absicht, die Verbindlichkeit der Kinderrechte, hier Partizipation, hervorzuheben.

Die OECD begann das Wohlbefinden der Kinder zu messen 2009 mit dem Bericht »Doing Better for Children« (OECD 2009). In der dritten Ausgabe der Reihe »How‘s life?« erschien 2015 ein eigenständiges Kapitel mit der Frage »How‘s life for children?«, in dem das Wohlbefinden von Kindern mit Indikatoren beschrieben wurde (OECD 2015). Derzeit sammelt das Child Well-Being Data Portal (CWBDP) der OECD Daten zum Wohlbefinden der Kinder und zur sozialen Umwelt, in der sie aufwachsen.

Die Studien von UNICEF und OECD greifen auf verschiedene internationale Datensätze mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten zurück, bei denen das Wohlbefinden der Kinder nicht im Mittelpunkt stand. Zudem beziehen sich die Dimensionen und Indikatoren nicht auf ein und dieselbe Stichprobe von Kindern und Jugendlichen. Gleiches gilt für die Angaben der Eltern über die Familien und Haushalte. UNICEF unterscheidet von Beginn an zwischen einem »objektiven« und »subjektiven« Wohlbefinden. Seit 2015 berücksichtigt auch die OECD ein »subjektives« Wohlbefinden. Der Indikator galt 2009 noch als spekulativ, und damit für die Politikberatung ungeeignet.10 Die neueren gesammelten Daten beider Organisationen ähneln sich darin, dass sie die Person des Kindes und seine verschiedenen sozialen Umwelten präziser zu systematisieren versuchen.

Ungeachtet der unterschiedlichen Dimensionen und Indikatoren wird in den Studien das Wohlbefinden des Kindes als Teilhabe an der Gesellschaft operationalisiert und gemessen. Dazu gehört besonders seine Teilhabe am ökonomischen Wohlstand (zum Beispiel Einkommen, Erwerbstätigkeit der Eltern, Deprivation), an persönlichen Beziehungen zu Eltern und Gleichaltrigen, am Gesundheitssystem (zum Beispiel Impfen), an der Schule und Erziehung (zum Beispiel Vorschulische Betreuung, Schulbesuch, Fähigkeiten in Rechnen und Lesen) sowie am politischen und rechtlichen System, ob und inwieweit dort die Erwartungen von Kindern und Eltern, etwa auf Sicherheit und Unterstützung, Resonanz finden. Außerdem werden Verhaltensweisen wie Spielen, Rauchen, Trinken von Alkohol, Ernährung und Sexualität gemessen. Diese verschiedenen Formen der Teilhabe erhalten erst durch ihre jeweilige kulturelle Bedeutung positive oder negative Zuschreibungen. Ähnliches gilt für persönliche Merkmale wie Körpergewicht, Alter und Geschlecht, die erst durch die Teilnahme des Kindes als Person an der Gesellschaft sozial relevant und damit zu einer gemeinsamen oder getrennten sozialen Erfahrung werden.

Die Messung des »subjektiven« Wohlbefindens beruht auf Mitteilungen über die Zufriedenheit etwa mit Familie, Schule und Gesundheit. In einigen Studien beschränkt sich das »subjektive Wohlbefinden« des Kindes auf eine einzige Frage, auf die das Kind antworten kann, indem es seine »allgemeine Lebenszufriedenheit« auf einer Skala von 0 bis 10 selbst einstuft (siehe Übersichten 1 und 2; [extern-file-download: PDF-Datei, 140 KB]). Es ist eine Mitteilung, die, ungeachtet der Validität der Information, der Person des Kindes zugeschrieben wird und nicht dem Individuum des Kindes, also seinem Fühlen und Denken, zugeschrieben werden kann.11

Die Messung des »objektiven« und »subjektiven« Wohlbefindens von Kindern stützt sich auf Mitteilungen von Kindern und Jugendlichen, aber auch auf Mitteilungen der Eltern (zum Beispiel Eltern, die berichten, dass sie mit ihrem 15-jährigen Kind »jeden Tag oder fast jeden Tag« reden) sowie auf kollektive soziale Indikatoren (zum Beispiel Mordrate, Säuglingssterblichkeit, Prävalenz von gesundheitlichen Beschwerden, Geburten pro 1 000 Frauen im Alter von 15 bis 19 Jahren).

(2) World Vision Kinderstudie und Children’s Worlds. International survey of children’s well-being (ISCWeB)

Das Kinderhilfswerk World Vision Deutschland e.V. publizierte 2018 die 4. World Vision Kinderstudie »Kinder in Deutschland«; die 1. Studie erschien 2007, weitere 2010 und 2013. Für die 4. World Vision Kinderstudie wurden 2 550 Kinder zwischen 6 und 11 Jahren in einer für Deutschland repräsentativen Erhebung mittels eines standardisierten Fragebogens »persönlich-mündlich« befragt. Außerdem wurde mit zwölf Kindern dieser Altersgruppe eine offene, nicht standardisierte Befragung mit einem hierfür gesondert entwickelten Leitfaden durchgeführt. Die Befragungen dauerten durchschnittlich etwa 34 Minuten (standardisiert) und 1 ½ Stunden (nicht standardisiert). Ein Elternteil gab ergänzende Auskünfte zu Herkunft und sozialer Lage der Familie. Die international vergleichende Studie »Children’s Worlds« (2020) wurde von der International Society for Child Indicators (ISCI) organisiert und von der Jacobs Foundation gefördert. Der Report beruht auf 128 184 standardisierten Interviews mit Kindern im Alter von 8, 10 und 12 Jahren in 35 Staaten der Welt in der Zeit von 2016 bis 2019 (siehe Übersicht 3; [extern-file-download: PDF-Datei, 140 KB]).

Der theoretische Ausgangspunkt beider Studien ist ein multidimensionales Konzept des kindlichen Wohlbefindens (»subjective well-being«), das die persönlichen Sichtweisen der Kinder und die gesellschaftlichen Kontexte, in denen Kinder ihr Wohlbefinden entwickeln, umfasst. Im Mittelpunkt der World Vision Studie steht die Zufriedenheit des Kindes mit Familie, Schule, Freizeit und Freunden, außerdem seine erfahrene Anerkennung und Mitbestimmung in diesen Bereichen und schließlich seine generelle Lebenszufriedenheit. Der »Children´s Worlds Report« unterscheidet zwischen »objektivem« und »subjektivem« Wohlbefinden. Jenes schließt Häufigkeiten (zum Beispiel: Wie oft Taschengeld) und Tatsachen (zum Beispiel: Menschen, mit denen das Kind zusammenlebt) ein, dieses bezieht sich auf Zufriedenheit (zum Beispiel: mit den Menschen, mit denen das Kind zusammenlebt) und Zustimmung (zum Beispiel: Mein Leben läuft gut ab).

Beide Studien messen als Wohlbefinden des Kindes seine Teilhabe in seinen unmittelbaren Lebensbereichen und seine Bewertung der Teilhabe. Trotz methodischer Unterschiede zu den Studien von UNICEF und OECD ist auch bei den Studien, welche die Mitteilungen und Informationen des Kindes in den Mittelpunkt stellen, das Wohlbefinden ausschließlich ein sozialer Sachverhalt, der der Person des Kindes und seiner Teilhabe in Bereichen der Gesellschaft zugeschrieben werden kann.

Theoretische und methodische Probleme am Konzept »Kindliches Wohlbefinden«

Als multidimensionales Konzept wird »Kindliches Wohlbefinden« (Child Well-Being) zwar häufig eingesetzt, aber ein einheitliches Modell hat sich in der Wissenschaft bislang nicht durchsetzen können. Nach Fattore et al. ist das Konzept inkonsistent definiert.12 Außerdem gebe es in der Forschung wenig Übereinstimmung darüber, wie es gemessen werden sollte. Drei theoretische und zwei methodische Probleme können hervorgehoben werden:

Theoretische Probleme:

  • Die vielfältigen Definitionen der Begriffe »Wohlbefinden« und »Child Well-Being« sind oft zirkulär und damit tautologisch. Sie lassen sich dann kurz zusammenfassen: Wohlbefinden ist ein Zustand, der gut, zufrieden, bejahend erlebt wird. In der Regel folgt eine Operationalisierung, die in theoretischer Qualität und empirischer Quantität variierend vor allem »gute« persönliche Eigenschaften und soziale Bedingungen aufzählt und beispielsweise Enttäuschungen von Erwartungen und Dissens ausschließt. Unbeobachtet bleibt, »Child Well-Being« als Einheit einer Differenz von vermeintlich guter und schlechter Kindheit paradox zu begreifen. (siehe i-Punkt »Wohlbefinden und Well-Being: Vielheit von Definitionen«).13
  • Die Voraussetzungen des Zustandekommens eines »subjektiven« Wohlbefindens, dessen Beobachtung sich im Wesentlichen auf die Befragung des Kindes stützt, sind theoretisch weitgehend ungeklärt. So fehlt eine theoretische Explikation zur Unterscheidung von Individuum und Person, die gleichsam das strukturelle Verhältnis von Befinden und sozialer Teilnahme, also auch von Wohlbefinden und seiner Mitteilung präzisieren könnte.
  • Die Normativität, die einerseits dem Wohlbefinden des Kindes innewohnt und andererseits in den Vorstellungen der Gesellschaft von »guter« Kindheit und »guter« Elternschaft zum Ausdruck kommt. Selbst in der Wissenschaft meint man zu wissen, was zum »Wohl des Kindes« gehört, auch auf die Gefahr hin, dass die Erkenntnisse der Studien »kulturelle Diversität ausblenden und mittelschichtsorientierte Standards implizieren«14, dadurch eine Homogenität unterstellen und eine Stigmatisierung der Lebenswelten von Kindern auslösen könnten und schließlich für eine »bessere« Politik und ein »besseres« Leben der Kinder instrumentalisiert werden.15

Methodische Probleme:

  • Die Validität (Gültigkeit) der mitgeteilten Informationen: Kann eine standardisierte Frage mit Antwortvorgaben zur Zufriedenheit ein »subjektives« Wohlbefinden des Kindes angemessen manifestieren? Auch bei Kindern sind unter dem Einfluss der Interviewsituation unangemessene Manifestationen möglich, etwa durch Beschönigung im Sinne »sozialer Erwünschtheit« oder Leugnung eines Unwohleins. Kinder lernen schon im frühen Alter, Informationen zurückzuhalten und falsche Information herzustellen.16 Die Gültigkeit kann auch dadurch beeinflusst werden, dass die Antworten auf der Skala der Zufriedenheit stets von der individuellen Identität mit ihrer spezifischen Sozialisation abhängen, und damit von unterschiedlichen Wahrnehmungen von Zufriedenheit.17 So können zwei Kinder sich »gleichermaßen« wohl fühlen und trotzdem unterschiedliche Antworten auf einer Skala beispielsweise von 1 bis 10 geben. Gemessen wird also nicht eine Tatsache, das Wohlbefinden als Bewertung eines psychischen Zustandes, sondern das Ergebnis einer Selbstauskunft. Das Ergebnis wird auf eine Ziffer reduziert und quantifiziert. Es erlangt auf diese Weise eine Objektivität, die es wegen seiner missverständlichen Grundlagen nie haben kann.
  • Die absolute Interpretation relationaler Daten durch den Wechsel von der individuellen zur kollektiven Interpretationsebene: Die Informationen zum »subjektiven« Wohlbefinden sind auf einer Ordinalskala angeordnet. Es sind Aussagen, die eine Person in Relation zu anderen Personen charakterisieren, aber absolut, das heißt ohne Bezug auf andere, keinen Sinn ergeben. Es ist daher völlig unzulässig, bei Kindern, die zufrieden oder sehr zufrieden geantwortet haben, irgendein für sich verstehbares Maß an Zufriedenheit anzunehmen. Man weiß lediglich, dass sie wohl zufriedener sind als andere. Beispiel: Geben 80 % der Kinder an, dass sie zufrieden oder sehr zufrieden sind mit ihrem Leben, dann bedeutet das nicht, dass der überwiegende Teil der Kinder mit seinem Leben zufrieden sei. Hier wird eine Aussage auf Kollektivebene (»die Kinder«) getroffen ohne Vergleichsobjekt, dort liegen Aussagen auf Individualebene vor, dass ein Kind wohl zufriedener ist als ein anderes. Durch intertemporale oder interkulturelle Vergleiche, zum Beispiel Zeitreihen oder soziale Schicht, erhält man zwar eine Mehrzahl von Kollektiven, und die Interpretationserfordernisse können dann auch auf Kollektivebene durchgehalten werden, aber es entstehen neue methodische Probleme wie vor allem dasjenige der Vergleichbarkeit von Informationen.18

Beim Entfalten der methodischen Probleme kann es nicht darum gehen, mit letzter Verbindlichkeit die Gültigkeit oder Ungültigkeit einer Kennzeichnung zu behaupten. Allerdings ist die Gültigkeit eines theoretisch relevanten Ereignisses besonders dann kritisch zu prüfen, wenn Personen anhand psychischer Prädikatoren gekennzeichnet werden. Die Zuschreibungen beruhen auf strukturierten Befragungen und Interpretationen durch die Wissenschaft und auf Angaben der Kinder über ihr individuelles Empfinden. Die Distanz zwischen dem gefühlten und dem geäußerten Wohlbefinden ließe sich verringern durch andere Verfahren der Datenerhebung, beispielsweise durch nichtstandardisierte Befragungen wie narrative Interviews und durch teilnehmende Beobachtung.

Wohlbefinden und Wohl: Grenzziehung und Zurechnung

Wissenschaft gründet auf nichtzirkulären und präzisen Begriffen und auf Aussagen, die theoretisch und empirisch begründet sind. Der englische Begriff »well-being« kennzeichnet einen sozialen, psychischen oder physischen Zustand, der sozial oder psychisch als gut bewertet wird. Der deutsche Begriff »Wohlbefinden« kennzeichnet allein einen psychischen Zustand, der psychisch als gut bewertet wird. Diese Unterscheidung systemspezifischer Operationen ist keine abstrakte Wortklauberei, sondern entfaltet ein konkretes Problem der Grenzziehung und Zurechnung von Wohlbefinden und Wohl. Die ausgewählten Studien zum Wohlbefinden der Kinder berichten über eine Teilnahme der Kinder als Personen an der Gesellschaft und über die Interpretation der Teilnahme aus Sicht von Wissenschaft und Politik. Das Wohlbefinden ist nur im Extremen mit Gewissheit messbar. Die Teilnahme kann zumeist zuverlässig und gültig gemessen werden, die Interpretation kann jedoch normativ sein. Was das Wohl des Kindes ist, variiert je nach Sicht der Teilsysteme der Gesellschaft. Die Wirtschaft bestimmt das Wohl anders als die Politik oder das Erziehungssystem und diese wiederum anders als die Familien. Damit kann es in der modernen Gesellschaft mit ihren Teilsystemen kein absolutes Wohl des Kindes geben. Erst recht können die sozialen Bestimmungen dessen, was das Wohl der Kinder sei, nicht identisch sein mit dem, was die Kinder als wohl empfinden und befinden. Das Wohl des Kindes ist sozial differenziert und komplex, das Wohlbefinden des Kindes bezieht sich auf seine Identität. Konkret in der Praxis von Wissenschaft und Politik folgt aus dieser Unterscheidung:

(1) Die Umstellung von Was- auf Wie-Frage: Was das Wohlbefinden des Kindes ist, lässt sich wegen der inhärenten Normativität des Konzeptes und der methodischen Unmöglichkeit des unmittelbaren Zuganges zum Fühlen und Denken weder theoretisch noch empirisch allgemein valide bestimmen und begründen. Es fehlt der Wissenschaft der Maßstab, ein Wohlbefinden des Kindes entlang der Unterscheidung wahr und unwahr zu begründen. Die jeweiligen Konzepte illustrieren den Begriff, aber sie definieren ihn nicht. Sie zählen nahezu arbiträr auf, was zum Wohlbefinden gehören mag, aber nennen nicht, wie es möglich ist. Der Wissenschaft kann es also zunächst nur um die Frage gehen: Wie ist das Wohlbefinden eines Kindes möglich? In einer demokratisch organisierten Gesellschaft obliegt es dann der Politik in der Form legitimierender Verfahren zu entscheiden und zu begründen, welche sozialen Strukturen ein Wohlbefinden des Kindes ermöglichen könnten.19 Auf diese Weise bliebe auch die Grenze erhalten, dort: »das Gelingen und Misslingen politischer Absichten zu vermessen«, hier: »Visionen einer Optimierung der Kindheit zu entwerfen«.20

(2) Die Unterscheidung von individuellem Wohlbefinden und gesellschaftlichem Kindeswohl: Man müsste vorsichtig sein, wenn man das eine als Indikator oder gar als Ursache für das andere sehen will. Abgesehen von extremen Situationen, also bei gestörter oder gar zerstörter psychischer und sozialer Autonomie, gehen soziale Lebensbedingungen und subjektives Wohlbefinden nicht unbedingt miteinander einher.21

(3) Eine gewisse Genügsamkeit der Gesellschaft gegenüber dem, was jemand fühlt und denkt, und ein Interesse gegenüber dem, was jemand tut: Die Gesellschaft ist abhängig von den psychischen Empfindungen und Zuständen der Menschen. Deshalb kann es ihr nicht ganz egal sein, was die Menschen empfinden und vor allem befinden. Aber genauso wenig wie die Gesellschaft die Würde des Menschen gewährleisten kann, kann sie ein Wohlbefinden des Kindes sicherstellen, wenn dieses mehr ist als der Ausschluss von extrem Negativem. Denn es beruht auf Voraussetzungen, auf die die Gesellschaft keinen Zugriff hat. Das Wohlbefinden ist sozusagen unantastbar. Dagegen hat die Gesellschaft Zugriff auf ein dialektisches Verhältnis von persönlichem Interesse als Anspruch auf Wohlbefinden, Zufriedenheit und Glück einerseits und in der Entwicklung des Kindes zunehmend unpersönlichen Interessen als Anforderungen der verschiedenen Bereiche der Gesellschaft andererseits.

1 Siehe Finzen, Asmus (2018): Normalität. Die ungezähmte Kategorie in Psychiatrie und Gesellschaft. Psychiatrie Verlag. Köln.

2 Ben-Arieh, Asher/Casas, Ferran/Frønes, Ivar/Korbin, Jill E. (Edts) (2014): Handbook of Child Well-Being. DOI 10.1007/978-90-481-9063-8. Springer Dordrecht Heidelberg New York London.

3 Markefka, Manfred/Nauck, Bernhard (Hrsg.) (1993): Handbuch der Kindheitsforschung. Luchterhand. Neuwied.

4 Siehe zum Beispiel: Huebner, Scott E. (1994): Preliminary development and validation of a multidimensional life satis­faction scale for children. Psychological Assessment, 6(2): 149–158, Betz, Tanja (2009): »Ich fühl’ mich wohl« – Zustandsbeschreibungen ungleicher Kindheiten der Gegenwart. Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, 4: 457–470.

5 Siehe Ben-Arieh, Asher/Casas, Ferran/Frønes, Ivar/Korbin, Jill E. (2014): Multifaceted concept of child well-being. A. Ben-Arieh et al. (Eds.): Handbook of Child Well-Being. DOI 10.1007/978-90-481-9063-8. Springer Dordrecht Heidelberg New York London: 1–27; Bühler-Niederberger, Doris (2020): Lebensphase Kindheit. Beltz Juventa. Weinheim.

6 Andresen, Sabine/Fegter, Susann (2012): Autonomie und Zuwendung: Die Sicht der Kinder auf ihre Eltern, in: Böllert, Karin/Peter, Corinna (Hrsg.): Mutter + Vater = Eltern? DOI 10.1007/978-3-351-94282-7_3, Verlag für Sozialwissenschaften. Springer Fachmedien. Wiesbaden: 51–61(52).

7 Siehe Andresen, Sabine/Schneekloth, Ulrich (2014): Wohlbefinden und Gerechtigkeit. Konzeptionelle Perspektiven und empirische Befunde der Kindheitsforschung am Beispiel der World Vision Kinderstudie 2013. Zeitschrift für Pädagogik, 60(4): 535–551; Kämpfe, Karin (2019): Das Child Well-Being-Konzept. Dies: Kindheiten in europäischen Migrationsgesellschaften. Kinder, Kindheiten und Kindheitsforschung, vol 21. Springer VS, Wies­baden: 27–60.

8 Die Übersichten stehen ausschließlich online zur Verfügung: https://www.statistik-bw.de/Service/Veroeff/Monatshefte/PDF/Beitrag21_07_02_Uebersicht.pdf (Abruf: 05.07.2021).

9 Siehe OECD (2015): 178 in Übersicht 2; [extern-file-download: PDF-Datei, 140 KB]

10 OECD (2009): Doing better for children. OECDpublishing: 29.

11 Zur Unterscheidung von Individuum (psychisches System mit seinem Empfinden und Befinden) und Person (sozialer Charakter, dem bei der Teilnahme an der Gesellschaft Handlungen zugeschrieben werden) siehe auch i-Punkt Zur Etymologie des Wortes »Wohlbefinden«.

12 Fattore, Tobia/Mason, Jan/Watson, Elizabeth (2016): Children’s understandings of well-being. Towards a child standpoint. Springer Netherlands: 12. DOI: 10.1007/978-94-024-0829-4.

13 Siehe eine Übersicht der verschiedenen Definitionen und Zuschreibungen bei Trommsdorff, Gisela (2018): Well-being and Happiness in Cultural Context. K. U. Mayer (Hrsg.): Gutes Leben oder gute Gesellschaft? Nova Acta Leopoldina NF Nr. 417: 159–177.

14 Siehe Kämpfe (2019): 51 in Fußnote 7.

15 So beispielsweise A. Ben-Arieh: »… how can international studies of child well-being serve us in the quest for better social policy and a better life for children«; Ben-Arieh, Asher (2014): Social Policy and the Changing Concept of Child Well-Being: The role of international studies and children as active participants. Zeitschrift für Pädagogik, 60(4): 569-581(575).

16 Siehe beispielsweise Bruner, Jerome (1997): Sinn, Kultur und Ich-Identität. Carl-Auer-Systeme. Heidelberg: 88; Meyer-Wehage, Brigitte (2020): Sorgerecht, Wechselmodell, Mehrelternschaft – Auswirkungen pluralisierter Familienformen auf die familiengerichtliche Praxis. Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit, 51(1): 50-59(56-57).

17 Siehe Trommsdorff (2018) in Fußnote 13.

18 Siehe Trommsdorff (2018) in Fußnote 13.

19 Baer, Susanne (2018): Kein Glücksversprechen: Deutsches Verfassungsrecht und »das gute Leben«. Mayer, Karl U. (Hrsg.): Gutes Leben oder gute Gesellschaft? Nova Acta Leopoldina NF Nr. 417: 179–192.

20 Siehe Zacher, Hans F. (2010): Universale Menschenrechte und die Wirklichkeit der globalen Welt – Das Beispiel der Kinderrechte. Humboldt Forum Recht, 2: 30, www.rewi.hu-berlin.de/de/lf/oe/hfr/deutsch/2010-02.pdf (Abruf: 16.10.2020).

21 Siehe beispielsweise Kämpfe (2019: 42) in Fußnote 7 sowie Bradshaw, Jonathan/Martorano, Bruno/Natali, Luisa/De Neubourg, Chris (2013): Children’s Subjective Well-being in Rich Countries, Working Paper 2013-03, UNICEF Office of Research, Florence: 24–26.