Kleine Geschichte der amtlichen Statistik in Württemberg
Die amtliche Statistik hat sich Anfang des 19. Jahrhunderts in allen deutschen Staaten und somit auch in Württemberg in enger Verbindung mit der öffentlichen Verwaltung entwickelt. Erst mit der Institutionalisierung der öffentlichen Verwaltung konnte die amtliche Statistik eine größere Bedeutung gewinnen. Die Anfänge der amtlichen Statistik als einer den Staat betreffenden und dem Staat dienenden Wissenschaft fielen in Deutschland in die Zeit der sich arrondierenden Staatenbildung der napoleonischen und nachnapoleonischen Zeit in den ersten Dekaden des vorletzten Jahrhunderts. Die sich damals herausbildenden Verfassungsstaaten benötigten die Statistik als notwendiges Mittel zur Verwirklichung der geforderten Öffentlichkeit der Verwaltung. Die mit den Konstituierungen der Verfassungsstaaten einhergehenden Verwaltungsreformen setzten Kenntnisse von Land und Leuten voraus, die vornehmlich die amtliche Statistik erheben und präsentieren konnte. So wurde die junge amtliche Statistik in Deutschland nach und nach ein unentbehrliches Mittel der Gesetzgebung und Verwaltung.1
Das erste königliche Dekret
Im Königlich-Württembergischen Staats- und Regierungsblatt wurde Anfang Dezember 1820 in einem königlichen Dekret verkündet, dass für die Statistik und Topografie des Vaterlandes ein eigenes Büro zu errichten sei. Am 26. März 1821 wurde dann vom württembergischen Finanzdepartement verkündet, dass dieses »Statistisch-Topographische Bureau die Bestimmung habe, eine genaue und vollständige Landes-, Volks- und Ortskunde von Württemberg zu liefern und die in jedem Jahre sich ergebenden Veränderungen sorgfältig zu sammeln, sodass jede Regierungsbehörde und jeder Württemberger fortdauernd eine richtige und umfassende Kenntnis von dem Zustand und den Verhältnissen des Vaterlandes sich zu verschaffen Gelegenheit habe«.2 Die Dienstaufsicht für das Statistisch-Topographische Bureau lag in Württemberg von Beginn an beim Finanzressort. Das ist der historische Grund dafür, dass auch das heutige Statistische Landesamt Baden-Württemberg in der Dienstaufsicht des Finanzministeriums liegt. Dies ist bundesweit nicht überall so, viele andere Statistische Landesämter unterstehen der Dienstaufsicht des jeweiligen Innenministeriums.
Das Statistisch-Topographische Bureau war von Anfang an eine halb behördliche, halb wissenschaftliche Anstalt eigener Prägung mit Aufgaben auf den verschiedenartigen Gebieten der Landeskunde im engeren Sinne, der Statistik, der Topografie und seit 1854 auch der Meteorologie. Erst allmählich wurde die Statistik zur Hauptaufgabe. Von 1820 bis 1828 stand der Staatsminister für Finanzen Ferdinand Heinrich August von Weckherlin dem Bureau vor. Der Schwerpunkt der Arbeiten während Weckherlins Amtszeit waren Oberamtsbeschreibungen im Rahmen einer allgemeinen Landesbeschreibung. Die in den Oberamtsbeschreibungen dargestellten wissenschaftlichen Erkenntnisse sollten in die Praxis der Verwaltung und des öffentlichen Lebens Eingang finden. Große Verdienste um die ersten Oberamtsbeschreibungen erwarb sich Johann Daniel Georg Memminger.
Bereits 1812, also vor der Gründung des Statistisch-Topographischen Bureaus, veröffentlichte Memminger eine Beschreibung von »Cannstatt und seiner Umgebung« und 1817 von »Stuttgart und Ludwigsburg mit ihren Umgebungen«.
Von 1822 bis 1840 führte er die Geschäfte des Statistisch-Topographischen Bureaus. Ab 1818 war Memminger auch Herausgeber der Württembergischen Jahrbücher für Statistik und Landeskunde. Neben Memminger war Regierungsrat Christian Kausler geschäftsführendes Mitglied des Bureaus. Er verfasste die Oberamtsbeschreibungen von Herrenalb, Liebenzell, Wildbad und Neuenbürg. Auf Weckherlin folgten in kurzen Abständen von 1828 bis 1840 als Amtsvorstände: Finanzminister Freiherr von Varnbühler, Staatsrat von Herzog, Staatsrat Gärtner und Staatsrat von Goppelt.
Das neue Statut
Unter dem Eindruck der Generalkonferenzen des Deutschen Zollvereins, in denen maßgeblich auch die Erhebungsmerkmale der Zollvereinszählungen festgelegt wurden, und den ersten internationalen statistischen Kongressen in Brüssel (1853) und Paris (1856) wurde dann das Statistisch-Topographische Bureau zur Zentralstelle für die Landesstatistik erweitert und die Aufgabenstellung durch ein umfassendes Statut neu geregelt. Im Statut von 1856 wurden die Geschäftsaufgaben wie folgt festgelegt:
1. Die allgemeine Landestatistik in Beziehung auf Grund und Boden, Bevölkerung, Feldbau und Viehzucht, Gewerbe und Industrie, Handel und Verkehr.
2. Die administrative Statistik der Innenverwaltung, der Rechtspflege, des Schulwesens, des Staatseinkommens und des Staatsaufwandes.
3. Im Bereich der Topografie die Fortführung und Vervielfältigung der aufgrund der Landesvermessung bearbeiteten Karten und die Vollendung der Beschreibung des Königreiches nach Oberamtsbezirken.
4. Die Zusammenstellung der meteorologischen Beobachtungen, die seit 1854 als weiteres Aufgabengebiet dem Bureau zugeordnet waren.
Durch das Statut war somit eine neue Grundordnung für das Statistisch-Topographische Bureau geschaffen worden. Als statistische Zentralstelle stand es fortan unter der Leitung eines Amtsvorstandes, der damit auch die Gesamtverantwortung für alle amtlichen Statistiken hatte, die davor in Teilen noch in der Weisungsbefugnis anderer Ministerien lagen. Bereits 1850 hatte Christoph von Herdegen die Leitung übernommen. Bis zu seinem Tod 1861 sorgte er vor allem für eine inhaltliche Aufwertung der Jahrbücher für Statistik und Landeskunde, indem er zahlreiche namhafte Autoren für diese Publikationsreihe gewinnen konnte.
Der Herdegen nachfolgende Amtsvorstand war Staatsrat Gustav von Rümelin. Er versuchte in seiner neuen Funktion zunächst in seiner Abhandlung »Zur Theorie der Statistik« eine fundierte Erläuterung dafür zu geben, was Statistik ist. Nach Rümelins Ansatz ist Statistik »die methodische Beobachtung und Zählung von Merkmalen menschlicher oder anderer Gruppen von Erscheinungen und deren wissenschaftliche Verwertung«. Rümelin wendet sich damit bewusst von der traditionellen Auffassung der Statistik als Staatenkunde ab.3 Ab 1867 wirkte Rümelin zusätzlich als Professor für Statistik und vergleichende Staatenkunde an der Universität in Tübingen. Von Rümelin beschäftigte sich in seiner Lehr- und Forschungstätigkeit vor allem mit demografischen Themen, insbesondere mit den Lehren von Malthus. Thomas Robert Malthus lebte von 1766 bis 1834 und war ein britischer Ökonom, der zu den Vertretern der klassischen Nationalökonomie gezählt wird.
Von 1873 bis 1877 war Karl Victor von Riecke Amtsvorstand, dann bis 1880 Direktor des Statistisch-Topographischen Bureaus. Bereits seit 1863 war Riecke ordentliches Mitglied des Bureaus. 1872 wurde er auf dem Internationalen Statistischen Kongress in Abwesenheit in die permanente Kommission des Internationalen Statistischen Instituts (ISI) gewählt, dessen Ehrenmitgliedschaft ihm 1886 angetragen wurde. Riecke verstärkte die statistisch orientierte vaterländische Landesbeschreibung. Er profilierte sich daneben als international gefragter Finanzwissenschaftler und erhielt auf dem ISI-Kongress in Stockholm den Auftrag, die internationale Finanzstatistik zu bearbeiten. Er verstärkte die Beziehungen zu den historischen Vereinen in Württemberg. Ab 1878 ließ Riecke die Württembergischen Vierteljahreshefte für Landesgeschichte als Beihefte der Württembergischen Jahrbücher für Statistik und Landeskunde herausgeben. 1880 wurde er zum Direktor des Steuerkollegiums (Staatsminister für Finanzen) berufen.
Nach Riecke kamen in schneller Folge die Amtsvorstände Georg von Schneider (1881 – 1886), Otto von Knapp (1886 – 1892), Otto von Schneider (1892 – 1894), Hermann von Zeller (1894 – 1904) und Franz von Stumpf (1904 – 1907). Unter Zellers Amtsvorstandsschaft erschien 1901 als Datensammlung das erste »Statistische Handbuch für das Königreich Württemberg« und eine vierbändige Landesbeschreibung für das Königreich Württemberg. 1903 wurde von König Wilhelm II. von Württemberg der durch von Zeller vorgeschlagenen »Errichtung einer geologischen Abteilung beim Statistischen Landesamt« durch den Staatsminister für Finanzen zugestimmt, wodurch die Behörde ein zusätzliches Aufgabengebiet erhielt. In diese Zeit fiel auch der Umzug in das neue Amtsgebäude in der Büchsenstraße in Stuttgart.
Das Württembergische Statistische Landesamt
In die Amtszeit von Karl von Haffner (1907 – 1922) fielen der Erste Weltkrieg und der Wechsel der Regierungsform Deutschlands von der Monarchie zur parlamentarischen Republik. Während seiner Amtszeit wurde 1914 die Amtsbezeichnung Präsident für den Leiter des Statistischen Landesamtes eingeführt. In Fortsetzung seiner Funktion im königlichen statistischen Amt war er der erste Präsident des – nun republikanischen – Württembergischen Statistischen Landesamtes. Während des Ersten Weltkrieges in der Zeit Haffners mussten in Württemberg wie in den anderen deutschen Staaten neben den originär statistischen Arbeiten schwierige und umfangreiche Sonderaufgaben der kriegswirtschaftlichen Versorgungsregelungen erbracht werden. So wurden zwischen 1914 und 1918 etwa vierzig kriegswirtschaftliche Erhebungen durchgeführt wie die regelmäßigen Aufnahmen der Getreide- und Mehlvorräte und des Kartoffelverbrauchs. Ferner gab es Bestandsaufnahmen über Leder, Häute, Fette, Öle, Hülsenfrüchte, Milch, Zucker, Obst, Gemüse, Heu und Stroh. Ab 1917 musste dann noch die Zahl der Selbstversorger und der Versorgungsberechtigten ermittelt werden.
Der nächste Präsident des Württembergischen Statistischen Landesamtes war Hermann Julius Losch. Bereits 1904 besuchte Losch in seiner Funktion als leitender Mitarbeiter der amtlichen Statistik Württembergs das Bureau of the Census in Washington und lernte dort Holleriths Lochkartenverfahren kennen. Für die Volkszählung 1910 konnte Losch, gestützt auf eingehende Rentabilitätsuntersuchungen, mit Zustimmung des württembergischen Finanzministeriums einen Vertrag mit der Deutschen Hollerithgesellschaft (später IBM) abschließen.
Das Württembergische Statistische Landesamt führte damit die maschinelle Datenverarbeitung in Württemberg ein. Aus organisatorischen und sozialpolitischen Gründen wurde die maschinelle Datenverarbeitung nach dem Ersten Weltkrieg eingestellt. Im Ersten Weltkrieg war Losch Mitglied des wirtschaftlichen Kriegsausschusses und danach Vorstand der Landespreisstelle. Losch war einer der ersten Statistiker, der sich mit der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und der Sozialproduktsberechnung beschäftigte. Er verfasste über 40 Publikationen insbesondere zu »Volksvermögen, Volkseinkommen und ihre Verteilung«. Als erster Statistiker beschäftigte er sich mit der Pendelwanderung, der Losch den wissenschaftlichen Namen gibt. Losch vereinbarte 1927 mit dem Schwäbischen Albverein, dass dieser jährlich mindestens 25 000 Wanderkarten im Maßstab 1 : 50 000 abnahm, damit wurde trotz knapper Haushaltsmittel die rasche Erscheinungsfolge der Wanderkarten garantiert. In Loschs Ära fiel aufgrund der Zentralisation in der Weimarer Republik eine Aufgabenausweitung der Auftragsstatistik für das Deutsche Reich, die somit weit umfangreicher als vor 1914 war. Hierbei handelte es sich in der Hauptsache um föderierte Reichsstatistiken, deren Bearbeitung durch die Statistischen Landesämter nach einheitlichen Richtlinien erfolgte oder um Reichsstatistiken, bei denen die Ämter nur als erhebende Stelle eingeschaltet waren oder lediglich eine gesonderte Auswertung des Erhebungsmaterials vornahmen. Daneben war und blieb die Hauptaufgabe die Sammlung, Verarbeitung und Veröffentlichung von Angaben über alle staatlichen und gesellschaftlichen Erscheinungen, die für Verwaltung und Wissenschaft bedeutungsvoll sein konnten. Loschs Präsidentschaft endete 1930.4
Otto Müller (1930 – 1933), der Nachfolger von Losch war, trat in seiner kurzen Amtszeit nicht besonders in Erscheinung. In dieser Zeit wurde das Amt de facto von Otto Trüdinger, seinem Stellvertreter, geführt. Trüdinger war ein Schüler von v. Rümelin und trat bereits 1893 in den statistischen Dienst. Von 1915 bis 1923 war er zunächst zweiter, dann erster Vorsitzender der Landespreisstelle. Trüdinger engagierte sich für eine erfolgreiche Weiterentwicklung der Landwirtschaftsstatistiken.
Das Ende und der Neuanfang
Karl Hermann Seeger (1933 – 1938), der ab 1929 ständiger Delegierter des württembergischen Finanzministeriums beim Württembergischen Statistischen Landesamt war, übernahm 1933 die Leitung des Amtes. Während seiner Amtszeit wurden die Abteilungen Meteorologie, Topografie und Geologie vom Statistischen Amt losgelöst. Obwohl die damalige Reichsführung versuchte, die Aufgabengebiete der Länder und ihrer Behörden mehr und mehr zu beeinflussen, gelang es Seeger, die wissenschaftliche Arbeitsweise der württembergischen Statistik zu erhalten. 1938 trat Seeger in den Ruhestand. 1939 nach Kriegsbeginn bis 1943 wurde er für den statistischen Dienst reaktiviert, da viele jüngere Statistiker als Soldaten in den Krieg ziehen mussten.
Josef Griesmeier (1938–1945) war der letzte Amtsleiter des Württembergischen Statistischen Landesamtes. Er begann 1929 seinen statistischen Dienst im Württembergischen Statistischen Landesamt. Von 1938 bis 1945 leitete er als Direktor das Amt, der Titel Präsident war nach der Abtrennung der vorgenannten Abteilungen abgeschafft worden. Griesmeier war gewähltes Mitglied des Internationalen Statistischen Institutes und im Vorstand und später Ehrenmitglied der Deutschen Statistischen Gesellschaft. Ab 1936 lehrte Griesmeier Statistik an der Universität Tübingen, die ihn 1941 zum Honorarprofessor ernannte. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er Lehrbeauftragter an der TH Stuttgart. Forschungsschwerpunkte Griesmeiers waren die Zusammenhänge zwischen wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung, Wanderungsbewegungen seit der Bauernbefreiung, Urbanisation und Pendelwanderung. Tiefgreifende Wirkungen auf die Arbeiten und den Dienstbetrieb löste der Beginn des Zweiten Weltkrieges aus. Im Jahr 1941 wurden die landeskundlichen Arbeiten bedingt durch personelle Engpässe ganz eingestellt. Infolge der Intensivierung des Luftkrieges wurde 1943 der Hauptteil des Amtes nach Wildbad verlegt, das alte Amtsgebäude in Stuttgart ging bei einem Fliegerrangriff in Flammen auf.5
Bedingt durch die Aufteilung Deutschlands nach Kriegsende in verschiedene Besatzungszonen gab es ab 1945 im ehemaligen Land Württemberg kein einheitliches Statistisches Landesamt mehr. Das Amtsgebäude in Stuttgart war weitgehend zerstört, nur die in den tiefen Kellerräumen gelagerten Akten und Archivalien waren erhalten geblieben. Durch die Teilung des Landes Württemberg und den Zusammenschluss Nordbadens mit Nordwürttemberg erhielt das Statistische Landesamt in Stuttgart per ministerieller Verfügung die Federführung für die beiden jetzt in Karlsruhe und Stuttgart angesiedelten Statistischen Ämter des neuen Bundeslandes Württemberg-Baden. Der Karlsruher Amtsleiter Paul Jostock wechselte sehr bald nach Stuttgart und leitete von da aus beide Ämter in Personalunion. Die französische Militärregierung errichtete in Tübingen im Oktober 1947 ein »Statistisches Landesamt für Württemberg-Hohenzollern«. Das Tübinger Amt war nicht für das neue Landesgebiet zuständig, sondern betreute daneben auch noch bis 1952 den bayrischen Kreis Lindau mit, der als einziger Landesteil des von den Amerikanern besetzten Bayern zur französischen Besatzungszone gehörte.6 An dieser organisatorischen Aufteilung der amtlichen Statistik im ehemaligen Land Württemberg sollte sich auch nichts mehr ändern, bis es 1952 zur Neugründung des Bundeslandes Baden-Württemberg und in Folge 1953 zur Gründung eines Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg mit Sitz in Stuttgart kam.7