Nutzung der Kernkraft in Baden-Württemberg
In Baden-Württemberg gingen zwischen 1968 und 1989 fünf Kernkraftwerke ans Netz. Die Stromerzeugung aus Kernenergie stieg mit den Inbetriebnahmen der Kraftwerke stetig an und erreichte Mitte der 90er-Jahre ihren Höhepunkt. Mit Beginn des 21. Jahrhunderts gewannen erneuerbare Energieträger zunehmend an Bedeutung, während die Stromerzeugungsmengen aus Kernenergie tendenziell zurückgingen. Dennoch stellt die Kernkraft heute nach wie vor etwa die Hälfte der Bruttostromerzeugung in Baden-Württemberg.
Die Geschichte der Kernenergie beginnt mit der Entdeckung der Radioaktivität im Jahr 1896 durch den französischen Physiker Antoine Henri Becquerel. Etwa 42 Jahre später gelang der Wissenschaft der Nachweis der Spaltung des Uranatoms. Kurz darauf konnte die »Kettenreaktion durch die bei der Kernspaltung freiwerdenden Neutronen« sowie »die Berechnung der Größenordung der dabei freigesetzten Energiemengen« aufgezeigt werden1. In Kernkraftwerken wird die Kettenreaktion von Kernspaltungsprozessen zur Wärmeerzeugung genutzt. Die Wärme wird im konventionellen Kraftwerksteil in Strom umgewandelt.
Im Jahr 1942 fand im Versuchsreaktor »Chicago Pile 1« die erste kontrollierte Kettenreaktion statt. »Die Versuchsanlage wurde … an der privaten University of Chicago gebaut und war Teil des Manhattan-Projekts, dessen Ziel der Bau von Kernwaffen war2.« Nach dem 2. Weltkrieg gewannen Forschungsarbeiten für die friedliche Nutzung der Kernkraft an Bedeutung. Im Jahr 1951 wurde in einem Versuchsreaktor im US-Bundesstaat Idaho erstmals Strom aus Kernenergie erzeugt.
Das Erlangen der Souveränität der Bundesrepublik im Jahr 1955 ermöglichte schließlich auch Deutschland die Beförderung und den Einsatz der friedlichen Kernenergienutzung. Noch im selben Jahr wurde das Bundesministerium für Atomfragen eingerichtet. Am 1. Januar 1960 trat das Atomgesetz3 als Rechtsgrundlage für den Bau und Betrieb von Kernkraftwerken in Kraft. Bereits im Jahr 1961 wurde vom bayrischen Versuchsatomkraftwerk Kahl erstmals Atomstrom in das öffentliche Stromnetz Deutschlands eingespeist. 5 Jahre später war es schließlich auch in Baden-Württemberg soweit. Der Mehrzweckforschungsreaktor im ehemaligen Forschungszentrum Karlsruhe4, durch den erstmalig Atomstrom ins baden-württembergische Stromnetz eingespeist wurde, besaß eine elektrische Leistung von 57 Megawatt. »Zweck der Anlage war das Sammeln von Erfahrungen für die Planung, Errichtung und Betrieb von Schwerwasser-Reaktorsystemen und das Testen von Brennelementen und Werkstoffen5.« Im Jahr 1968 ging das erste kommerzielle Kernkraftwerk Baden-Württembergs am Standort Obrigheim ans Netz. Dieses war mit einer elektrischen Leistung von 357 Megawatt bereits wesentlich leistungsstärker als der Forschungsreaktor in Karlsruhe. Nach Angaben des Betreibers war das Kernkraftwerk Obrigheim der erste kommerziell genutzte Druckwasserreaktor Westdeutschlands, der Strom ins öffentliche Netz einspeiste6.
Konsolidierung der Kernenergienutzung in den 70er- und 80er-Jahren
In den »Wirtschaftswunderjahren«, zwischen 1950 und 1960, stieg der Bruttostromverbrauch in Baden-Württemberg um 148 %. Immer mehr Anwendungsmöglichkeiten der Elektrizität im öffentlichen, industriellen und privaten Bereich ließen den Verbrauch auch in den 60er- und 70er-Jahren weiter kräftig ansteigen. So lag der Bruttostromverbrauch im Jahr 1970 bereits 2 ½-mal höher als 1960. Im Jahr 1980 verbrauchten allein die Haushalte doppelt soviel Strom wie 1970 – und dies obwohl sich ihr Verbrauch bereits in den 10 Jahren zuvor verdreifacht hatte. Neben dem Zuwachs an elektrischen Haushaltsgeräten spielt hier auch der Bevölkerungszuwachs von rund 20 % zwischen 1960 und 1980 eine Rolle.
Vor dem Hintergrund des stetig wachsenden Bedarfs an Elektrizität und der Ölpreiskrise im Jahr 1973 wurden in Baden-Württemberg die Kernkraftwerkskapazitäten immer weiter ausgebaut. Im Jahr 1976 ging das Kernkraftwerk Neckarwestheim I ans Netz, 3 Jahre später das Kernkraftwerk Philippsburg I. Dieser Ausbau der Kernkraft veränderte auch die Zusammensetzung der eingesetzten Energieträger für die Stromerzeugung. 1974 dominierten noch die Energieträger Steinkohle (31 %) und schweres Heizöl (25 %) den Strommix, gefolgt von den erneuerbaren Energieträgern7 (17 %) und Erdgas (14 %). Erst an fünfter Stelle folgte die Kernenergie mit einem Anteil von 11 %. Bereits 1982 wurde schließlich mehr Strom aus Kernenergie gewonnen als aus Steinkohle. Nach Inbetriebnahme des Blocks II des Kernkraftwerks Philippsburg im Jahr 1984 entfiel in den Folgejahren rund die Hälfte der Stromerzeugung in Baden-Württemberg auf die Atomkraftwerke. 5 Jahre später, im Jahr 1989, ging Neckarwestheim II ans Netz, es ist eines der jüngsten Atomkraftwerke in Deutschland.
Höhepunkt der Kernenergienutzung Mitte der 90er-Jahre erreicht
In den 90er-Jahren waren in Baden-Württemberg fünf kommerzielle Kernkraftwerke an den drei Standorten Obrigheim, Philippsburg und Neckarwestheim in Betrieb. 1994 erreichte der Anteil des Atomstroms an der Bruttostromerzeugung mit 61 % seinen Höchstwert. Absolut betrachtet war jedoch 1996 das Jahr, in dem mit 39,5 Terawattstunden8 die höchste Strommenge aus Kernenergie in Baden-Württemberg erzeugt wurde. Der Stromverbrauch wuchs auch zwischen 1990 und 2000 weiter an, allerdings mit einem Plus von 15 % weniger drastisch als in den Jahrzehnten zuvor.
In den letzten Jahren gingen die erzeugte Strommenge sowie der Anteil der Stromerzeugung aus Kernenergie tendenziell zurück. Während beispielsweise die aus Kernenergie erzeugte Strommenge zwischen 2000 und 2007 um fast 10 % abnahm, stieg die Bruttostromerzeugung im Land in dieser Zeit um rund 7 %. 2007 erreichte der Anteil der Kernenergie einen Tiefstand von 49 %. Geringer war der Anteil an der Bruttostromerzeugung zuletzt im Jahr 1988 mit 46 %. Erzeugungsrückgänge können auf unterschiedliche Ursachen rückführbar sein. In Betracht kommen bei jährlichen Schwankungen vor allem Revisionsarbeiten in den Kernkraftwerken. Für den leichten Abwärtstrend könnte hingegen auch das verstärkte Auftreten erneuerbarer Energien am Markt verantwortlich sein. Im Jahr 2005, also nach mehr als 36 Betriebsjahren, wurde das Kernkraftwerk Obrigheim vom Netz genommen, was in den Folgejahren vermutlich ebenfalls zum Rückgang der Kernenergie in Baden-Württemberg beigetragen hat.
Ein Viertel des deutschen Atomstroms kommt aus Baden-Württemberg
In Deutschland waren 2009 insgesamt 17 Kernkraftwerke in Betrieb, darunter vier in Baden-Württemberg. Die baden-württembergischen Kernkraftwerke stellen etwa ein Viertel des deutschen Atomstroms. Trotz des leichten Abwärtstrends der letzten Jahre ist die Kernenergie nach wie vor der Energieträger mit dem höchsten Gewicht für die Stromproduktion in Baden-Württemberg. Der Anteil an der Bruttostromerzeugung betrug 2009 rund 52 % und liegt damit immer noch wesentlich über dem Deutschlandwert von ca. 23 %8. Entsprechend ihrer höheren Leistungsklasse erzeugten die neueren Blöcke Philippsburg II und Neckarwestheim II etwa zwei Drittel des Atomstroms Baden-Württembergs. 2009 stellten sie damit jeweils gut 17 % der Bruttostromerzeugung im Land. Auf Platz zwei im baden-württembergischen Strommix steht seit 1982 die Steinkohle. Sie kam 2009 auf einen Anteil von 23 %. Dahinter rangieren die erneuerbaren Energieträger wie zum Beispiel die Wasserkraft, Biomasse und Fotovoltaik mit zusammengenommen 15 %.
Im Jahr 2010 erzeugten die Kernkraftwerke in Baden-Württemberg rund 31,7 Terawattstunden Strom. Dies waren knapp 8 % weniger als im Vorjahr. Die Erzeugung aus Kernkraft ging damit deutlich stärker zurück als die Stromerzeugung in den Kraftwerken der allgemeinen Versorgung insgesamt (– 2 %). Eine Ursache hierfür waren vermutlich auch Revisionsarbeiten. So war Neckarwestheim I im Jahr 2010 mehrmals vom Netz und kam so nur auf eine vergleichsweise geringe Zeitverfügbarkeit von 62,9 %9. Die übrigen drei Blöcke im Land kamen gemeinsam auf einen Wert von 89,9 %. Wie sich der Beitrag der Kernkraft in Zukunft entwickeln wird, ist vor dem Hintergrund aktueller politischer Diskussionen schwer zu prognostizieren. Sicher scheint im Moment lediglich zu sein, dass der Höhepunkt der Stromerzeugung aus Kernenergie im Land bereits 1996 überschritten wurde.