Atypische Beschäftigung – typisch weiblich?
Mit der grundlegenden Reform des deutschen Unterhaltsrechts wurde 2008 ein wichtiger familienpolitischer Schritt gemacht: Das Unterhaltsrecht wurde durch eine Reihe von Gesetzesänderungen an die Realitäten des heutigen Familienlebens angepasst, unter anderem durch die deutliche Stärkung der nachehelichen Eigenverantwortung der geschiedenen Partner. Angesichts der nach wie vor hohen Scheidungszahlen insbesondere bei kürzeren Ehen ist es das Ziel dieses Reformbausteins, den Geschiedenen die Chance zu geben, erneut eine Familie zu gründen und diese auch zu finanzieren. Heute sind Ehen in Baden-Württemberg mehrheitlich nach dem Prinzip »Ernährer und Zuverdienerin« strukturiert: Ehefrauen üben oft eine Teilzeiterwerbstätigkeit oder andere verhältnismäßig geringfügig bezahlte Beschäftigungen aus. Nach neuem Unterhaltsrecht (siehe i-Punkt) kann diese Situation im Scheidungsfall das Risiko eines dauerhaft geminderten Lebensstandards bergen. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Frage nach der Art und Weise weiblicher Erwerbstätigkeit eine neue Relevanz. Dieser Artikel zeigt anhand aktueller Daten und Forschungsergebnisse, in welchem Umfang Ehefrauen in Baden-Württemberg sogenannten atypischen Beschäftigungsformen wie Teilzeitarbeit oder Minijobs nachgehen und welche Vor- und Nachteile diese für sie haben.
Die Zahl der gerichtlichen Ehescheidungen ist in Baden-Württemberg von1956 bis 2004 im Trend fast durchgängig von 5 087 auf 25 129 gestiegen. Ein größerer Einbruch war lediglich 1977/78 angesichts der Reform des Ehe- und Familienrechts zu verzeichnen. Seit 2004 ist die Zahl der Ehescheidungen im dritten Jahr in Folge von 25 129 auf 22 145 im Jahr 2007 gesunken.
Diese Entwicklung ist allerdings bislang nicht als Anzeichen für eine grundlegende Trendwende in Richtung einer niedrigeren Scheidungshäufigkeit zu werten. Vielmehr scheint angesichts demografischer Analysen zur Scheidungsintensität in Deutschland1 vorerst einiges dafür zu sprechen, dass sich die Scheidungshäufigkeit auf hohem Niveau stabilisiert: Zunächst wäre ein Sinken der absoluten Scheidungszahlen angesichts der seit Anfang der 90er-Jahre tendenziell zurückgehenden Eheschließungszahlen schon früher zu erwarten gewesen. Wo weniger Ehen geschlossen werden, fällt auch die Zahl der Scheidungen geringer aus. Vorausgesetzt, dieser Effekt wird nicht durch eine steigende Scheidungsneigung der verheirateten Bevölkerung überkompensiert, wie dies in Deutschland bis 2004 der Fall war. Ab 2005 wirkt sich in Deutschland dann das Zusammentreffen einer zurückgehenden Scheidungsneigung mit weiter sinkenden Eheschließungszahlen reduzierend auf die Zahl der geschiedenen Ehen aus. Hinzu kommt, dass sich für Ehepaare ab dem Heiratsjahrgang 1998 das Jahr mit der höchsten Scheidungshäufigkeit vom 6. in das 5. Ehejahr verlagert hat. Folge dieser Verhaltensänderung ist aufgrund des Zusammenfallens zweier Scheidungsgipfel ein deutlicher Anstieg der Scheidungszahlen in den Jahren 2003 und 2004. Da sich auch die Ehepaare der nachfolgenden Heiratsjahrgänge 1999 und 2000 nach diesem Muster verhalten haben, kommt es im Anschluss wieder zu einem Rückgang der Scheidungszahlen. Diese Entwicklungen lassen sich ebenso in Baden-Württemberg beobachten.
Im europäischen Vergleich liegt Baden-Württemberg 2007 mit einem Wert von 2,1 Scheidungen auf 1 000 Personen der Bevölkerung im Mittelfeld. In dieselbe Kategorie fallen zum Beispiel Frankreich, Norwegen und Bulgarien. Für Deutschland insgesamt ergibt sich 2007 mit 2,3 ein etwas höherer Wert. 2007 wurden 55 % der Scheidungsverfahren in Baden-Württemberg von Ehefrauen eingeleitet, 38 % von Ehemännern und 7 % von beiden Partnern gemeinsam.
Zunehmende Verbreitung atypischer Beschäftigung
Seit Mitte der 80er-Jahre hat sich in Baden-Württemberg eine deutliche Ausweitung der Gesamtbeschäftigung2 vollzogen, die im Wesentlichen auf das Zustandekommen zusätzlicher atypischer Beschäftigungsverhältnisse zurückzuführen ist. Der Begriff »atypische Beschäftigung« ist eine Sammelkategorie, die sämtliche Beschäftigungsvarianten umfasst, die nicht der Kategorie des Normalarbeitsverhältnisses zuzurechnen sind. Definitionsmerkmale des Normalarbeitsverhältnisses sind3:
- abhängige Vollzeittätigkeit
- unbefristeter Arbeitsvertrag
- existenzsicherndes Erwerbseinkommen4
- sozialversicherungspflichtige Beschäftigung
- Identität von Arbeits- und Beschäftigungsverhältnis
Demgegenüber sind sechs Kernformen atypischer Beschäftigung (i-Punkt) zu unterscheiden, die jeweils mindestens eines der Merkmale des Normalarbeitsverhältnisses nicht erfüllen:
- Teilzeitbeschäftigung
- geringfügige Beschäftigung
- befristete Beschäftigung
- »neue« Selbstständigkeit (Ich-AG, Familien-AG), Kleinselbstständigkeit (Selbstständige ohne Angestellte)
- Leiharbeit
- »Working Poor« (Erwerbstätige in unbefristeter Vollzeittätigkeit mit Einkommen unterhalb der Niedrigeinkommensschwelle)
Atypische Beschäftigung ist weiblich
Will man sich einen Überblick über das Erwerbsverhalten von Ehefrauen in Baden-Württemberg verschaffen, dann ist es zunächst wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass 2007 rund 77 % der Frauen im Alter von 20 bis unter 60 Jahren verheiratet oder geschieden waren. Wertet man den Erwerbsstatus der Ehepartner differenziert nach Geschlecht aus, dann zeigt sich, dass mit einem Anteil von 96 % der Großteil der Ehemännern einer Erwerbstätigkeit nachging oder eine Arbeitsstelle suchte. Bei den Ehefrauen waren drei Viertel erwerbstätig oder auf der Suche nach einem Beschäftigungsverhältnis.
Betrachtet man nun im nächsten Schritt die Beschäftigungsformen in Baden-Württemberg für 2007 differenziert nach Geschlecht und Familienstand, so ergibt sich ein relativ eindeutiges Bild: Drei Viertel der erwerbstätigen Ehefrauen im Alter von 20 bis unter 60 Jahren waren atypisch beschäftigt, während die Ehemänner derselben Altersgruppe mehrheitlich einer Normalbeschäftigung bzw. einer selbstständigen Tätigkeit nachgingen.
Hinzu kommt, dass sich der zeitliche Umfang der Erwerbstätigkeit von Ehefrauen in Baden-Württemberg laut Mikrozensus-Auswertungen (i-Punkt) seit Mitte der 70er-Jahre tendenziell rückläufig entwickelt hat: Weg von der Vollzeit- hin zur Teilzeittätigkeit oder zur geringfügigen Beschäftigung. Demgegenüber gingen die Ehemänner in Baden-Württemberg im selben Zeitraum nach wie vor überwiegend einer Vollzeiterwerbstätigkeit nach5.
Wie sind diese Ergebnisse zu bewerten? Atypische Beschäftigungsverhältnisse werden oft pauschal als prekär bezeichnet. Der Begriff »prekär« charakterisiert in diesem Fall atypische Beschäftigungsverhältnisse an sich als unsicher, heikel, bedenklich, schwierig, als das Gegenbild zum durch Rechtsansprüche geschützten Normalarbeitsverhältnis. Das muss nicht der Fall sein, solange der atypische Beschäftigte in eine Familienkonstellation eingebunden ist, in der sich die Ehepartner als vollzeiterwerbstätiger Ernährer und zum Beispiel teilzeiterwerbstätiger und zugleich Haus- und Familienarbeit leistender Zuverdiener ergänzen und sich langfristig zuverlässig gegenseitig absichern. Außerdem stellen sich nach wie vor insbesondere Frauen der Herausforderung, Haus- und Familienarbeit mit einem Beschäftigungsverhältnis in Einklang zu bringen und treten mit Wünschen nach mehr Flexibilität an ihre Arbeitgeber heran. Sie profitieren von dem wachsenden Angebot an flexibleren atypischen Beschäftigungsmöglichkeiten, die für sie zunächst einen Schritt in Richtung einer eigenständigeren Existenzsicherung bedeuten.
Ein vollständigeres Bild ergibt sich indes, wenn man eine Auswertung des European Labour Force Surveys von 2005 berücksichtigt. Danach wünschten sich 28 % der in deutschen Paarhaushalten lebenden Frauen im Alter von 15 bis unter 65 Jahren mit Kindern unter 5 Jahren die Erwerbskonstellation »Mann Vollzeit, Frau Teilzeit« und 21 % die Kombination »beide Partner Vollzeit6«. Rund 23 % der Frauen lebten zum Zeitpunkt der Befragung bereits die Vollzeit/Teilzeit-Variante, weitere 10 % die Vollzeit/Vollzeit-Kombination7.
Schattenseiten atypischer Beschäftigung
Auf lange Sicht ist es allerdings angesichts der nach wie vor hohen Scheidungshäufigkeit und der neuen Rahmenbedingungen durch die Unterhaltsrechtsreform 2008 wichtig, bei einer Entscheidung für oder gegen eine der Varianten atypischer Beschäftigung auch die Schattenseiten der neuen Beschäftigungsoptionen mit in Betracht zu ziehen: Laut einer empirischen Studie8 des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) ist im Vergleich zu einem Normalbeschäftigten …9
… die Wahrscheinlichkeit, für ein nicht existenzsicherndes Einkommen10 arbeiten zu müssen für einen …
befristet Vollzeitbeschäftigten | 3,2-mal so groß, |
---|---|
unbefristet Teilzeitbeschäftigten | 2,4-mal so groß, |
Leiharbeiter | 7,5-mal so groß. |
… das Risiko, nach einem Jahr arbeitslos zu werden, für einen …
befristet Vollzeitbeschäftigten | 4,2-mal so groß, |
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unbefristet Teilzeitbeschäftigten | 0,9-mal so groß, |
Leiharbeiter | 4,0-mal so groß. |
… die Chance, an Kursen der betrieblichen Weiterbildung teilzunehmen für einen …
befristet Vollzeitbeschäftigten | 0,8-mal so groß, |
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unbefristet Teilzeitbeschäftigten | 0,7-mal so groß, |
Leiharbeiter | 0,6-mal so groß. |
Atypisch Beschäftigte müssen insgesamt über alle Beschäftigungstypen hinweg damit rechnen, dass weniger in ihre berufliche Fortbildung investiert wird. Außerdem verdienen sie mit wesentlich größerer Wahrscheinlichkeit weniger und sind einem höheren Kündigungsrisiko ausgesetzt als Erwerbstätige in Normarbeitsverhältnissen.11
»Ernährer und Zuverdienerin« – ein Lebensmodell mit Zukunft?
»Ernährer und Zuverdienerin« oder im Fachbegriff das »modernisierte männliche Ernährermodell« ist insgesamt zur Zeit das Konzept des Zusammenlebens, das die Mehrheit der baden-württembergischen Ehepaare lebt. Die Ablösung des »männlichen Ernährermodells« durch das »modernisierte männliche Ernährermodell« wurde durch das wachsende Angebot an zusätzlichen atypischen Beschäftigungsverhältnissen mit ermöglicht. Atypisch beschäftigt sind in Baden-Württemberg bislang damit überwiegend Frauen, insbesondere Ehefrauen. Für sie können sich angesichts der Neuausrichtung des Unterhaltsrechts in Zukunft im Scheidungsfall (i-Punkt 1) die Schattenseiten der neuen Beschäftigungsformen nachteilig auswirken.
Atypische Beschäftigung hat also weiteres positives Potenzial: Sie könnte zu einer partnerschaftlicheren Verteilung der Erwerbs-, Haus- und Familienarbeit und der damit verbundenen Risiken beitragen, wenn in Zukunft auch erwerbstätige Ehemänner atypische Beschäftigungsverhältnisse eingehen. Grundvoraussetzung dafür wäre allerdings eine verbesserte soziale Absicherung dieser neuen flexiblen Beschäftigungsformen.