Arbeitslosigkeit und Inflation in Baden-Württemberg
Wer in seinem persönlichen Umfeld eine nicht-repräsentative, willkürliche Stichprobe erhebt und eine Befragung darüber durchführt, welche gesamtwirtschaftlichen Größen als wichtig angesehen werden, der dürfte »Arbeitslosigkeit« und »Inflation« regelmäßig unter den am häufigsten genannten Begriffen antreffen. Ein Grund dafür mag darin liegen, dass sich weite Teile der Bevölkerung mehr oder weniger durch beides abstrakt oder konkret bedroht sehen. So ist es nicht verwunderlich, dass der Preisstabilität und einem hohen Beschäftigungsstand seitens der Politik besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Seit 1967 sind diese Ziele in Deutschland sogar im Stabilitätsgesetz verankert. Konsens besteht darüber, dass Inflation und Arbeitslosigkeit nicht unabhängig voneinander sind. Gleichwohl besteht bis heute wenig Einmütigkeit darüber, wie der Zusammenhang zu interpretieren ist. Entsprechend unterschiedlich fallen die wirtschaftspolitischen Handlungsempfehlungen zur Überwindung der Arbeitslosigkeit aus. Anhand der Entwicklung von Inflationsrate und Arbeitslosigkeit lassen sich verschiedene Phasen der baden-württembergischen Wirtschaftsentwicklung seit Beginn der 50er-Jahre nachzeichnen, die natürlich eng mit der bundesdeutschen und weltweiten verknüpft ist.
Das Phänomen der »Sockelarbeitslosigkeit«
Die Entwicklung der Arbeitslosigkeit zeigt in den meisten größeren westeuropäischen Industrienationen seit der Nachkriegszeit einen Verlauf, der wenig ermutigend erscheint: Im Zuge der Überwindung der Kriegsfolgen geht zwar die Arbeitslosenquote zurück und Jahre der »Vollbeschäftigung« folgen. Jede Wirtschaftskrise seit Beginn der 70er-Jahre bewirkt jedoch einen Anstieg der Arbeitslosigkeit, welche im Zuge der anschließenden wirtschaftlichen Erholung nicht mehr auf ihr altes Niveau zurückgeht – es bleibt eine (nunmehr aufgestockte) »Sockelarbeitslosigkeit« bestehen. Viele Erwerbstätige finden nach dem Verlust ihres Arbeitsplatzes also für längere Zeit nicht mehr ins Erwerbsleben zurück – eine Tatsache, die sich auch am steigenden Anteil der Langzeitarbeitslosen festmachen lässt. Ausgehend von einer Vollbeschäftigungssituation wäre nach einer Wirtschaftskrise unter Umständen zu erwarten, dass Arbeitslose geringere Lohnansprüche haben als Arbeitsplatzbesitzer. Durch diese Konkurrenzsituation käme es zu einer entsprechenden allgemeinen Anpassung der Lohnforderungen nach unten (bzw. einem Rückgang des Wachstums der Lohnforderungen), die dazu führte, dass sich die frühere Vollbeschäftigung wieder einstellt. Dies scheint jedoch nicht der Fall zu sein.1
Unter der Prämisse, dass Lohnforderungen die Knappheitsverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt widerspiegeln, die Lohnentwicklung aber als Kostenfaktor für die Unternehmen relevant ist und bei deren Preisgestaltung berücksichtigt wird, eröffnet der Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Inflation – gerade auch im internationalen Vergleich – Einsichten über institutionelle Rahmenbedingungen des Arbeitsmarktes und stabilitätspolitische Einstellungen der wirtschaftspolitischen Akteure.
Phasen der Wirtschaftsentwicklung in Baden-Württemberg
Die Jahre nach dem Krieg stehen ganz im Zeichen des Wiederaufbaus. Die Inflationsrate2 liegt bis zum Ende der 50er-Jahre unter 2 %, und die Arbeitslosenquote geht auf unter 1 % zurück. Die Währungsreform, hohe Produktivitäts- und Investitionszuwächse sowie die Konvertibilität der DM tragen wesentlich zur wirtschaftlichen Überwindung der Kriegsfolgen bei. Das Wirtschaftswachstum führt zu einem Rückgang der Arbeitslosigkeit, wobei ein starker Zustrom von Arbeitskräften aus der DDR ebenfalls dafür sorgt, dass das westdeutsche Produktionspotenzial steigt und das Wirtschaftswachstum damit weitgehend inflationsfrei bleibt.
Die 60er-Jahre sind gekennzeichnet von einem danach nie wieder erreichten hohen Beschäftigungsstand. Das bundesdeutsche – und damit auch das baden-württembergische – Wirtschaftswunder setzt sich weiter fort. Da der Zustrom von Flüchtlingen aus Ostdeutschland durch den Bau der Berliner Mauer gebremst wurde, werden verstärkt Arbeitnehmer aus dem Ausland angeworben. Trotz dieser Ausweitung des Arbeitskräftepotenzials sind die Kapazitäten ausgelastet. Arbeitskräfte sind gesucht, was zu steigenden Löhnen und Gehältern führt. Allerdings werden diese zum großen Teil in die Preise überwälzt, sodass die Inflationsrate bereits spürbar ansteigt.
Im Herbst 1973 wird die Weltwirtschaft von der ersten Ölkrise heimgesucht. Durch die folgende Verteuerung der Energie erhöhen sich die Kosten der Unternehmen, was diese in Form von Aufschlägen in ihrer Preisgestaltung berücksichtigen und für die Arbeitnehmer mit Reallohneinbußen verbunden ist. Die auf den Ausgleich des Kaufkraftverlusts bedachten Gewerkschaften setzen entsprechende Lohnsteigerungen durch, was dem vergeblichen Versuch entspricht, einen Teil der Wirtschaftsleistung an die Arbeitnehmer weiterzugeben, der bereits anderweitig »verteilt« wurde (nämlich an die Erdöl exportierenden Länder). Es tritt also ein »Zweitrundeneffekt« ein. Aufgrund dessen und da die Bundesbank eine »Lohn-Preis-Spirale« befürchtet, sieht diese sich als Hüterin der Geldwertstabilität zu einer nachfragedämpfenden Geldpolitik veranlasst. Die Politik der Bundesbank trägt über die gestiegenen Zinsen zu einem Rückgang der Inflation bei, allerdings um den Preis einer gestiegenen Arbeitslosigkeit, die nicht wieder auf ihr altes Niveau der 60er- und frühen 70er-Jahre zurückgeht. Als 1979/80 die zweite Ölkrise einsetzt, wiederholt sich die Geschichte annähernd: einem restriktiven Kurs der Bundesbank folgt ein Rückgang der Inflation und eine Zunahme der Arbeitslosenquote, die sich dann erneut auf einem höheren Niveau einpendelt.
In wirtschaftlicher Hinsicht sind die Jahre von 1990 bis zur Gegenwart sicherlich besonders durch die deutsche Einheit und die europäische Integration geprägt. Nach einem kurzen »Wiedervereinigungsboom«, von dem auch die Südwestwirtschaft profitiert, folgt ab 1992 eine Zunahme der Arbeitslosenquote, die im Jahr 1997 mit 8,7 % ihren für Baden-Württemberg höchsten Wert erreichte. Als eine Ursache hierfür kann auch die restriktive Geldpolitik der Bundesbank zur Bekämpfung der Inflationsgefahr infolge der Wiedervereinigung gesehen werden. In einem engen Zusammenhang dazu ist die EWS-Krise 1992/933 zu sehen, die an der exportorientierten Südwestwirtschaft nicht spurlos vorübergegangen ist. 4 Ein weiterer Faktor, der zur Steigerung der Arbeitslosigkeit beigetragen haben dürfte, ist in die politische und ökonomische Öffnung der mittel- und osteuropäischen Länder, die für die heimischen Unternehmen nicht nur neue Absatzmärkte bedeuten, sondern auch attraktive Produktionsstandorte. Auch nach dieser Phase steigender Arbeitslosigkeit setzt eine wirtschaftliche Erholung ein, die dem Arbeitsmarkt zugute kommt, erneut bleibt aber eine aufgestockte Sockelarbeitslosigkeit bestehen.
Eine unumkehrbare Entwicklung? Lehren aus einem internationalen Vergleich
Dass die skizzierte Entwicklung nicht zwangsläufig ist, zeigt ein Vergleich mit Volkswirtschaften, die ordnungs- und/oder prozesspolitisch andere Wege gegangen sind: Zum einen mit den USA als Inbegriff der freien Marktwirtschaft; zum anderen mit einem Land, das von der Größenordnung, der wirtschaftlichen Entwicklung und hinsichtlich der »sozialen Orientierung« der Marktwirtschaft Baden-Württembergs näher liegen dürfte, nämlich Dänemark. 5 Allen Volkswirtschaften ist gemeinsam, dass die Inflationsbekämpfung sehr erfolgreich war und zumindest zeitweilig durch höhere Arbeitslosenquoten erkauft wurde. Betrachtet man den Zusammenhang von Inflationsrate und Arbeitslosenquote für die USA, so scheint es eine nennenswerte Verfestigung von Arbeitslosigkeit – zumindest nach europäischen Maßstäben und für den gewählten Beobachtungszeitraum – allerdings nicht zu geben. Die Arbeitslosenquote des Jahres 2006 (4,6 %) unterscheidet sich beispielsweise nicht wesentlich von den Werten Mitte der 60er-Jahre. Auf die Selbstheilungskräfte des Marktes vertrauende Meinungen sehen die Ursache hierfür darin, dass der Arbeitsmarkt in den USA wenig reglementiert ist und die Lohnersatzleistungen geringer sind als in Europa. Marktskeptiker weisen allerdings darauf hin, dass sich die US-amerikanische Fiskal- und Geldpolitik wenig scheuen, mittels Nachfragepolitik Konjunktursteuerung zu betreiben. Diese unterschiedlichen Sichtweisen bezüglich der Therapie finden sich regelmäßig auch in den Gutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung wieder: Die gegensätzlichen Ansichten finden in der Mehrheitsmeinung der Gutachter, die auf Flexibilisierung des Arbeitsmarktes setzen, und den Sondervoten eines Ratsmitglieds seit 2004, welche den Aspekt der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage betonen, ihren Niederschlag.6 Diese voneinander abweichenden Positionen machen deutlich, dass eine ganze Reihe von unterschiedlich begründeten Maßnahmen zur Überwindung der Arbeitslosigkeit infrage kommt.
Vor diesem Hintergrund dürfte auch ein Blick auf Dänemark aufschlussreich sein, das in seiner wirtschaftlichen Entwicklung zum Teil ähnliche Phasen durchlief wie Deutschland und nun seit geraumer Zeit als »Jobwunderland« die Blicke auf sich zieht (vgl. Schaubild). Vergleicht man die Arbeitslosenquoten in Dänemark und Baden-Württemberg miteinander, stellt man – zumindest für die letzten Jahre – zum Teil ähnliche Werte fest. Das eigentlich Bemerkenswerte am dänischen Beispiel und der Unterschied zu Deutschland ist vielmehr, dass das Muster einer sich stets weiter aufbauenden Sockelarbeitslosigkeit seit Anfang der 90er-Jahre durchbrochen worden ist. Dies ist umso beeindruckender, als sich die dänische Arbeitslosenquote von gut 12 % im Jahr 1993 auf weniger als 5 % im Jahr 2006 mehr als halbiert hat, und dies bei unverändert niedrigen Inflationsraten. Die Ursachen dieses vermeintlichen Wunders scheinen in einer undogmatischen Wirtschaftspolitik zu liegen: seit 1994 wurden Arbeitsmarktreformen durchgeführt, wie die Verkürzung der Bezugsdauer von Lohnersatzleistungen, die im Einzelfall allerdings recht hoch sein können (»Flexicurity«), oder Verpflichtung zur Teilnahme an Weiterbildungsmaßnahmen ab einer gewissen Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes. Die Arbeitsmarktreformen werden allerdings durch expansive Nachfragepolitik flankiert. Auf diese Weise werden die Auswirkungen von Strukturreformen, welche zumindest zeitweise »Gewinner« und »Verlierer« produzieren, abgefedert. Wenn die Rahmenbedingungen in Deutschland und Dänemark auch im Einzelnen schwer miteinander zu vergleichen und nicht alle Maßnahmen voll und ganz übertragbar sind, so scheint das dänische Beispiel zumindest eines zu zeigen – dass angebotsorientierte Strukturreformen und Nachfragepolitik keine unversöhnlichen Gegensätze sind, sondern sich gegenseitig sinnvoll ergänzen.