»Auch Ausländerinnen im Geburtenstreik«
Interview mit der Schwäbischen Zeitung1
Es ist nach wie vor relativ unbekannt, dass auch das generative Verhalten der ausländischen Bevölkerung in den letzten Jahren rückläufig war und sich dem der Deutschen angenähert hat. Über das Ausmaß dieser Entwicklung, Gründe und mögliche Konsequenzen wurde Erich Stutzer von Herrn Hosseinpour, Redakteur der Schwäbischen Zeitung, befragt.
Hosseinpour: Die Geburtenrate der ausländischen Bevölkerung in Baden-Württemberg, einst fast doppelt so hoch wie bei deutschen Frauen, ist drastisch gesunken und liegt jetzt bereits unter der Quote bei deutschen Frauen. Spiegelt sich hier die wirtschaftliche Entwicklung wider oder handelt es sich um ein allgemeines Phänomen, die Anpassung der Ausländerinnen an hiesige Lebensgewohnheiten und an die Wertemuster deutscher Frauen?
Stutzer: Es gibt wie auch bei der deutschen Bevölkerung nicht eine Ursache für eine bestimmte Geburtenentwicklung. Das Geburtenverhalten ist nicht monokausal, sondern es kommen immer mehrere Gründe zusammen, die zu einem bestimmten Geburtenniveau führen. So spiegelt auch das generative Verhalten ausländischer Frauen einerseits eine gewisse Anpassung an unsere Lebensgewohnheiten und Wertvorstellungen wider, anderseits sind es auch Reaktionen auf die Rahmenbedingungen für Familien in Deutschland.
Hosseinpour: Differenzieren sich die Geburtenhäufigkeiten nach der Staatsangehörigkeit?
Stutzer: Interessanterweise ja. So haben zum Beispiel türkische Frauen oder Frauen aus Restjugoslawien immer noch eine höhere Geburtenhäufigkeit als deutsche Frauen, andere – zum Beispiel Italienerinnen und Griechinnen – eine deutlich niedrigere. Bei allen ausländischen Frauen ist jedoch ein klarer Rückgang der Geburtenhäufigkeiten festzustellen. Dies interpretiere ich so, dass zwar kulturelle Unterschiede schon noch von Bedeutung sein können, letzlich aber die hiesigen Lebensbedingungen doch in der Entscheidung für oder gegen Kinder durchschlagen.
Hosseinpour: Ist der Rückgang der Kinderzahl bei Ausländerinnen ein speziell baden-württembergisches Phänomen oder handelt es sich um eine »gesamtdeutsche« Entwicklung?
Stutzer: Es ist kein baden-württembergisches Phänomen. Die gleiche Entwicklung ist auch auf Bundesebene zu beobachten. Auch für Deutschland insgesamt lag 1999 die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau mit 1,38 Kindern erstmals unter der der deutschen Frauen mit 1,4 Kindern. Dieser Sachverhalt wird in der Öffentlichkeit, vielleicht aus Unkenntnis, häufig falsch dargestellt.
Hosseinpour: Ist der Rückgang der Geburtenrate auch in den Heimatländern der Ausländerinnen zu beobachten? In welchen Ländern ist er besonders hoch?
Stutzer: Bezogen auf die europäischen Länder sind ähnliche Entwicklungen zu beobachten. Die niedrigsten durchschnittlichen Kinderzahlen sind in Italien, Griechenland und Spanien zu finden. Dies sind auch bei uns die Nationalitäten mit den niedrigsten Geburtenziffern. Anders sieht es bei den Türkinnen aus, die in der Türkei deutlich höhere Kinderzahlen aufweisen als hier.
Hosseinpour: Die bislang positive Bevölkerungsentwicklung im Südwesten wurde stets auf die Zuwanderung und den Zuwachs bei Ausländern zurückgeführt. Welche Konsequenzen ergeben sich für das Land, wenn die ausländischen Frauen jetzt nicht mehr das »Geburten-Defizit« der deutschen Frauen ausgleichen?
Stutzer: Die Geburtenzahlen in Baden-Württemberg sind bereits seit über 20 Jahren unter dem Bestandserhaltungsniveau. Die Konsequenzen einer solchen Entwicklung liegen einerseits im Rückgang der Bevölkerungsanzahl und zum anderen – und das ist viel schwerwiegender – in einem Alterungsprozess der Bevölkerung. Mit der Zuwanderung konnte der Bevölkerungsrückgang bislang immer noch vermieden werden, eine Alterung hat aber bei uns bereits eingesetzt und wird sich in der Zukunft verstärkt fortsetzen. Die Konsequenzen des demografischen Alterungsprozesses sind deutlich in der zurzeit laufenden Diskussion um unsere sozialen Sicherungssysteme ablesbar. Ganz allgemein formuliert wird eine zunehmend kleinere Anzahl von Personen im erwerbsfähigen Alter zunehmend mehr ältere Menschen im Rentenversicherungssystem unterstützen müssen.
Hosseinpour: Gibt es erkennbare Unterschiede in Bezug auf den Bildungsstand der Frauen im Zusammenhang mit der Kinderzahl?
Stutzer: In Bezug auf den Bildungsstand zeigt sich sowohl für Baden-Württemberg wie auch für Deutschland insgesamt, dass eine steigende Anzahl von Akademikerinnen ganz auf Kinder verzichtet. Der Anteil kinderlos bleibender Akademikerinnen beläuft sich in Baden-Württemberg auf etwa ein Drittel der Akademikerinnen mit steigender Tendenz, in Deutschland insgesamt auf etwas mehr als 40 %.
Hosseinpour: Kann die Politik in Baden-Württemberg Ihres Erachtens in irgendeiner Form eine neuerliche Wende zu mehr Kinderfreundlichkeit und -häufigkeit bei Ausländerinnen einleiten?
Stutzer: Maßnahmen zu mehr Kinder- und Familienfreundlichkeit sollten nicht nur auf die ausländische Bevölkerung beschränkt werden. Es ist ein generelles Problem, das sich auch nicht nur für eine spezielle Gruppe lösen lässt, sondern nur gesamtgesellschaftlich angegangen werden kann. Da Familien von Änderungen in allen gesellschaftlichen Teilbereichen betroffen sind und Familienpolitik damit immer auch einen Querschnittscharakter haben muss, können es nicht nur einzelne oder nur sehr wenige Maßnahmen sein, die zu mehr Familienfreundlichkeit führen, sondern es ist ein gesellschaftlicher Umdenkungsprozess gefordert, der möglichst überall zu mehr Kinder- und Familienfreundlichkeit beiträgt. Maßnahmen können sehr vielfältig sein. Dies können zum Beispiel Maßnahmen für eine Verbesserung der materiellen Situation von Familien sein, eine Verbesserung in der Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbstätigkeit, eine stärkere Anerkennung und Absicherng von Familientätigkeiten oder auch familienfreundliche Maßnahmen in den Kommunen. Eine Aufstellung, was Kommunen hier alles tun und welche Projekte besonders innovativ sind, wird zurzeit von der Familienwissenschaftlichen Forschungsstelle recherchiert und unter der Internetadresse »Familienfreundliche-Kommune« der Öffentlichkeit und interessierten Kommunen bereitgestellt.