:: 6/2004

Wollen die Deutschen keine Kinder?

Sechs Gründe für die anhaltend niedrigen Geburtenraten

»Der letzte Deutsche« titelt der Spiegel plakativ im Januar 2004. Vor dem Aussterben stehen die Deutschen zwar nicht, aber die Geburtenraten in Deutschland sind seit Jahren niedrig. »Nicht bestandserhaltend«, es werden nicht mehr so viele Menschen geboren, die deutsche Bevölkerung wird zahlenmäßig kleiner und im Schnitt älter.

Die problematische Situation in den Rentenkassen und sozialen Sicherungssystemen hat diese Fakten in den Blickpunkt gerückt. Die Deutschen sollen wieder mehr Kinder bekommen, wird als politischer Wille formuliert. Doch die Frage ist: Wie werden Männer und Frauen motiviert, wieder eine (große) Familie zu gründen? Nur wer die Gründe kennt, kann entsprechende Anreize schaffen.

Die Entscheidung für oder gegen Kinder ist immer eine individuelle Entscheidung. Auf diese individuelle Entscheidung wirken aber auch gesellschaftliche Rahmenbedingungen ein. Im Folgenden werden sechs Ursachen von übergeordneter Bedeutung, die bei der Entscheidung junger Paare für oder gegen eine Familiengründung von besonderer Wichtigkeit sind, vorgestellt. Grundsätzlich setzt die Entscheidung für Kinder Stabilität und Sicherheit voraus. Werden die Zukunftsperspektiven als unsicher empfunden, wird eher auf Kinder verzichtet. Wichtige Einflussgrößen bei der Entscheidung für oder gegen Kinder sind darüber hinaus materielle Benachteiligungen, strukturelle Rücksichtslosigkeiten, aber auch der Verzicht auf Möglichkeiten der persönlichen Verwirklichung. Der Vergleich mit der Situation in anderen europäischen Ländern zeigt auf, dass andere Kontextbedingungen zu höheren Geburtenraten führen können.

Kinderlosigkeit in Deutschland besonders hoch

In Deutschland hat sich die Geburtenhäufigkeit in den letzten 100 Jahren von über 500 Kindern, die von 100 Frauen geboren wurden, auf 135 Kinder (Baden-Württemberg 137 Kinder) reduziert (Schaubild 1). Für die Bestandserhaltung einer Gesellschaft benötigen wir 210 Kinder, die von 100 Frauen geboren werden. Der Frauenjahrgang von 1935 war der letzte, der sich vollständig reproduziert hat. Seit Mitte der 70er-Jahre fehlt uns ein Drittel der Geburten.

In allen europäischen Ländern waren Geburtenrückgänge zu beobachten, die zu Geburtenhäufigkeiten unterhalb der bestandserhaltenden Geburtenrate geführt haben. Dennoch gibt es Unterschiede im Niveau in den verschiedenen Ländern. Es gibt Länder mit noch oder wieder relativ hohen Geburtenhäufigkeiten, wie etwa Frankreich, Norwegen oder Dänemark, und es gibt andere mit stabil sehr niedrigen Geburtenzahlen. Hierzu zählen Deutschland, Italien, Spanien und Griechenland, wie nachfolgende Texttabelle zeigt:

Durchschnittliche Geburtenhäufigkeiten (Kinder je Frau)
Pakistan4,8
USA2,1
Irland1,9
Frankreich1,9
Norwegen1,8
Dänemark1,7
Belgien1,7
Niederlande1,7
Finnland1,7
Großbritannien1,6
Schweden1,6
Portugal1,5
Baden-Württemberg1,4
Österreich1,3
Deutschland1,3
Griechenland1,3
Italien1,3
Japan1,3
Spanien1,2

Deutschland gliedert sich mit der niedrigen Geburtenrate im europäischen Kontext ein, allerdings gibt es zwei interessante Sonderentwicklungen, die in diesem Ausmaß in keinem anderen europäischen Land zu beobachten sind:

Es gibt eine Polarisierung in der Entscheidung für oder gegen Kinder. Entweder entscheiden sich die Menschen für Kinder, dann aber auch in der Regel gleich für zwei, oder sie verzichten ganz auf Kinder. So viele Kinderlose wie in Deutschland gibt es in keinem anderen europäischen Land.1 Auch in Baden-Württemberg bleiben zunehmend mehr Frauen kinderlos, und je besser ausgebildet sie sind, desto häufiger. In Baden-Württemberg bleiben etwa 36 % der Akademikerinnen kinderlos (Schaubild 2). In anderen europäischen Ländern wie zum Beispiel Italien gibt es weiterhin viele Familien, aber die Familien werden kleiner; aus der früheren Zwei-Kind-Familie ist dort sozusagen eine Ein-Kind-Familie geworden. Eine zweite deutsche Besonderheit ist der niedrige Anteil von kinderreichen Familien mit 3 und mehr Kindern.

Die Konsequenzen: Überalterung der Gesellschaft

Die Folge dieser niedrigen Geburtenraten ist die langsame Umkehrung des Altersaufbaus unserer Gesellschaft. Um 1900 war jeder Zweite unter 20 Jahre alt, heute ist es nur noch jeder Fünfte, 2050 wird es nur noch jeder Siebte sein. Dafür hat dann jeder Dritte bereits das 60. Lebensjahr überschritten. Auch durch Zuwanderung lässt sich dieser Alterungsprozess nicht stoppen. Wollte man die niedrige Geburtenrate mit Zuwanderung ausgleichen, müsste die Anzahl an Netto-Zuwanderung allein in Baden-Württemberg jährlich bei 170 000 Menschen liegen, und das würde auf Dauer die Integrationskraft unserer Gesellschaft überfordern.

Dieser Alterungsprozess unserer Gesellschaft aufgrund zu niedriger Geburtenzahlen führt dazu, dass immer weniger jüngere Menschen immer mehr älteren gegenüberstehen. Der so genannte Altenquotient besagt, dass heute auf 100 Erwerbspersonen 40 Personen über 60 Jahre kommen. 2050 werden es 77 Personen sein – eine deutlich zunehmende »Belastung« der dann erwerbstätigen Generation. Der Jugendquotient sagt aus, dass zum jetzigen Zeitpunkt auf 100 Erwerbspersonen 40 unter 20-Jährige kommen. Im Jahr 2050 werden dann etwa 34 unter 20-Jährige auf 100 Erwerbspersonen kommen. Als Konsequenz aus diesen Zahlen ergibt sich, dass heute von 100 Erwerbspersonen die Finanzierungslasten für 80 noch nicht bzw. nicht mehr Erwerbstätige getragen werden. Im Jahr 2050 müssen 100 Erwerbstätige 111 Junge und Alte versorgen.

Das betrifft natürlich nicht nur die Rente, sondern auch die anderen sozialen Sicherungssysteme, die an die Erwerbstätigkeit geknüpft sind:

  • Die Situation der Krankenversicherung wird sich allein schon deswegen noch weiter verschärfen, weil mit der zunehmenden Anzahl älterer Menschen und mit zunehmendem Alter in höherem Maße medizinische Leistungen in Anspruch genommen werden.
  • Die Anzahl der Pflegebedürftigen steigt. Sie dürfte im Jahr 2040 bei 390 000 liegen und damit doppelt so hoch wie heute sein.
  • Es ist möglich, dass es zu einem Mangel an qualifizierten Erwerbspersonen kommt. Innerhalb der Erwerbspersonen wird der Altersdurchschnitt deutlich höher liegen als heute, was Einfluss auf Arbeitsproduktivität, Innovationskraft und Krankenstand haben wird.

Aber nicht nur materielle Auswirkungen oder die Sorge um ein mangelndes Erwerbstätigenpotenzial sollten uns fragen lassen, warum es zu dieser Entwicklung gekommen ist und wie man gegensteuern kann. Kinder sind ein Wert an sich. Eine Gesellschaft ohne Kinder verliert mehr als die Finanzierungsbasis für ihr soziales Sicherungssystem.

Die Ursachen: Sechs Gründe für niedrige Geburtenraten

Erst die Beantwortung der Frage nach den Ursachen zeigt Ansatzpunkte, wie diese Entwicklung beeinflusst werden kann. Woran liegt’s? Wollen die Deutschen keine Kinder mehr? Hat ein Bewusstseinswandel stattgefunden? Sind die Rahmenbedingungen für junge Paare so schlecht, dass sie einen Kinderwunsch nicht realisieren?

Die Entscheidung für ein erstes, zweites oder drittes Kind wird nicht nur von einer einzigen Ursache bestimmt. In der Regel liegt eine ganze Reihe von Gründen vor, sich für oder gegen ein Kind zu entscheiden. Die Ursachen sind nicht monokausal, und deshalb gibt es auch kein Patentrezept.

Einige Gründe, die diese Entscheidung beeinflussen, werden im Folgenden dargestellt. Dabei wird jeweils der Vergleich zur Situation in den Ländern, die im europäischen Vergleich höhere Geburtenraten haben, gezogen. Grundsätzlich und umfassend ist zunächst festzuhalten, dass die Entscheidung für Kinder Stabilität und Sicherheit voraussetzt. Sind die Zukunftsperspektiven durch Unsicherheit und Instabilität geprägt, wird eher auf Kinder verzichtet. Unsere komplexe moderne und individualisierte Gesellschaft zeichnet sich eher durch Unsicherheiten und Instabilitäten aus als umgekehrt. Vor diesem Hintergrund zunehmender Unsicherheiten sind folgende sechs Gründe für ein niedriges Geburtenniveau in Deutschland zu sehen.

Erster Grund: Plurale Gesellschaft und Wertewandel

Wir leben in einer pluralen Gesellschaft. Lebensformen haben sich ausdifferenziert, es gibt keine Standardbiographie mehr, die das Leben des einzelnen Mannes oder der einzelnen Frau bestimmt. Was vor 40 Jahren noch als Stationen des Lebens für die meisten selbstverständlich war: Schule, ggf. Ausbildung (oft nur für den Mann), Heirat, Geburt von Kindern, Großelternschaft, Ehen nicht auf Zeit, sondern bis zur Verwitwung, ist heute durch eine breite Palette an Lebensformen abgelöst worden. Singles, nicht eheliche Partnerschaften, allein Erziehende, Patch-Work-Familien, Wiederverheiratete, Living-Apart-Together: Paare mit getrennten Haushalten. Viele dieser Lebensformen sehen nicht mehr zwangsläufig Kinder vor.

Hinzu kommt eine Pluralisierung der Werte. Es gibt keine normative Verbindlichkeit mehr, Kinder zu bekommen. Sie sind zu einer denkens- und planenswerten Option neben anderen geworden und nicht mehr selbstverständlich. Die Entscheidung für ein Kind fällt häufig sehr bewusst, ist Ausdruck einer Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten. Die Einstellung zu Kindern hat sich verändert, vielfach haben Paare sich schon an ein Leben ohne Kinder gewöhnt und setzen andere Prioritäten.

Wer sich für Kinder entscheidet, nimmt bewusst in Kauf, dass er oder sie auf andere Optionen verzichten muss. Freiheit, Selbstverwirklichung, Erlebnisorientierung, die in unserer individualisierten Gesellschaft hoch gehandelt werden, sind mit Kind – vielleicht? – nur noch eingeschränkt umzusetzen. Die Qual der Wahl wird durch die Möglichkeiten der Familienplanung erleichtert. Hat Verhütung versagt, bleibt immer noch die Abtreibung als eine zunehmend von der Gesellschaft akzeptierte Alternative. Während deutsche Paare als Konsequenz aus dieser Vielfalt der Möglichkeiten zur Lebensgestaltung immer häufiger ganz auf Kinder verzichten, ist in fast allen anderen europäischen Ländern festzustellen, dass Paare zumindest ein Kind bekommen, dann aber auf das zweite oder dritte Kind verzichten.

Zweiter Grund: Partnerschaft und Ehe als Option

Frauen benennen eine harmonische und stabile Partnerschaft als wichtiges Kriterium für die Realisierung ihres Kinderwunsches. Sehen sie das nicht als gegeben an, verzichten sie eher auf Kinder, als das Risiko einzugehen, dem Kind womöglich keine vollständige Familie im traditionellen Sinne bieten zu können. In unserer wertepluralen Gesellschaft sind jedoch auch Partnerschaft und Ehe oft nur noch zu Optionen auf Zeit geworden. Diese Brüchigkeit von Partnerschaften wirkt sich auf die Geburtenrate aus. In Deutschland dokumentiert die Ehe immer noch im gewissen Rahmen die Verbindlichkeit einer Beziehung. Nimmt man die Eheschließungszahlen als Indikator, kann man feststellen, dass ein Viertel der Frauen der Geburtsjahrgänge ab 1960 voraussichtlich Zeit ihres Leben unverheiratet bleiben wird, bei Frauen der Geburtsjahrgänge bis 1940 sind dagegen zu über 90 % eine Ehe eingegangen.

Dritter Grund: Hohe Wertschätzung von Kindern

Eine Ursache, auf Kinder zu verzichten, ist – paradoxerweise – die hohe Wertschätzung von Kindern. Dieser Satz mag zunächst widersprüchlich klingen. Um es vereinfacht zu sagen: Früher bekam man Kinder einfach. Heutzutage dagegen entscheiden sich Paare oft sehr bewusst. Und diesen Kindern soll es dann ermöglicht werden, in unserer Leistungsgesellschaft bestmöglich in ein erfolgreiches und glückliches Leben zu starten. Sie sollen keine materiellen Sorgen haben, pädagogisch wertvoll erzogen werden, genug Zeit und Zuwendung bekommen. Um das zu gewährleisten, wird der ideale Zeitpunkt für die Geburt geplant. Das »Nest« muss gemacht sein, die Bedingungen für den neuen Erdenbürger sollen möglichst perfekt sein. Ist das nicht gegeben, entscheiden sich Paare oft lieber gegen ein Kind, bevor sie es ihm »zumuten«, in weniger idealen Verhältnissen aufzuwachsen.

Vierter Grund: Schwierige Vereinbarkeit von Familie und Berufstätigkeit

Eine ganz wesentliche Rolle für die niedrigen Geburtenraten spielt die Doppelsozialisation von Frauen. Was ist darunter zu verstehen? Vor 40 Jahren wurde eine Frau darauf vorbereitet, dass ihre wesentliche Lebensaufgabe in der Geburt und Erziehung von Kindern liegt. Heutzutage dagegen werden Frauen zwei sinnstiftende Bereiche für ihr Leben vermittelt: Zum einen weiterhin die Mutterschaft, und zwar mit dem hohen Anspruch, für das Kind ganz da zu sein, Liebe, Kraft und Zeit zu investieren; zum anderen aber auch die Verwirklichung über eine Erwerbstätigkeit und das Erreichen von beruflichen Zielen als Lebensinhalt. Junge Frauen haben heute zwei Ziele in ihrer Lebensgestaltung: Familie und Beruf. Eine Vereinbarkeit dieser beiden Lebensbereiche ist aber in unserer Gesellschaft immer noch nur sehr bedingt möglich, und das hat Folgen.

So wird die Geburt des ersten Kindes in ein höheres Lebensalter verschoben; es liegt im Durchschnitt bei über 29 Jahren. Eine Frau möchte die meist hohen Investitionen in ihre Ausbildung nutzen und sich vor der Familiengründung erst beruflich etabliert haben. Dies auch deshalb, weil sie weiß, dass sie nach einer kindbedingten Unterbrechung der Erwerbstätigkeit oft keine Tätigkeit mehr findet, die ihrer Qualifikation entspricht.

Ganz verheerend wirkt sich in diesem Zusammenhang der gesamte Arbeitsmarkt mit dem anhaltend hohen Maß an Arbeitslosigkeit aus. Diese vom Arbeitsmarkt ausstrahlende Instabilität ist eine der Hauptbarrieren für eine Realisierung von Kinderwünschen. Um den Berufseinstieg dann überhaupt wieder realisieren zu können, wird auf ein zweites oder drittes Kind verzichtet. Frauen, die bereits in jungen Jahren Karriere machen, verzichten häufig ganz auf Kinder, weil der Verdienstausfall, aber auch der Verzicht auf die Gestaltungsspielräume, die eine qualifizierte berufliche Position bietet, als ein zu großer Nachteil empfunden werden. Das trifft europaweit insbesondere auf Hochschulabsolventinnen und freiberuflich tätige Frauen zu.

Ein Großteil der Elternpaare wünscht sich Teilzeitmodelle, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu realisieren (Schaubild 3). Dass ein Partner qualifiziert teilzeiterwerbstätig ist, der andere Vollzeit oder dass sogar beide Elternteile in Teilzeit arbeiten, ist in Deutschland zumeist nicht umsetzbar.

Zu dieser europaweiten Entwicklung kommt noch ein typisch deutsches Phänomen hinzu: Berufstätigkeit von Frauen ist zwar akzeptiert, aber nur, solange keine kleinen Kinder unter drei Jahren im Haushalt leben. Mütter, die Vereinbarkeitslösungen suchen, müssen sich neben allen anderen Schwierigkeiten auch noch mit einem negativen gesellschaftlichen Urteil auseinandersetzen.

In anderen europäischen Ländern, die eine höhere Geburtenrate haben, liegt die Situation in diesem wichtigen Lebensbereich anders:

  • Selbstverständliche Akzeptanz der Berufstätigkeit von Müttern: In Schweden beispielsweise sind über 60 % der Meinung, dass die Berufstätigkeit der Frau auch bei einem kleinen Kind im Haushalt selbstverständlich möglich sein sollte und sich nicht negativ auf die Entwicklung des Kindes auswirkt. In Deutschland liegt der Anteil der Befragten, die sich dieser Meinung anschließen können, unter einem Drittel, und das konstant seit Jahren.
  • Bessere Möglichkeiten der Kinderbetreuung: In Dänemark steht für jedes zweite Kind unter drei Jahren eine Betreuungsmöglichkeit zur Verfügung, ähnlich ist die Situation in Norwegen oder den USA. In Deutschland gibt es dagegen in den alten Bundesländern gerade mal für 2 % der unter Dreijährigen Betreuungsplätze. In Frankreich müssen sich Eltern keine Gedanken machen, wie sie ihre Schulkinder nachmittags unterbringen, weil es flächendeckend die Ganztagesschule gibt, ein Modell, das in Deutschland gerade erst diskutiert wird.
  • Flexible Arbeitszeitmodelle: In Schweden hat sich der Staat aktiv um Arbeitszeitmodelle bemüht, die Möglichkeit der Teilzeitarbeit für Eltern ist weit gehend eine Selbstverständlichkeit.

Fünfter Grund: Zukunftsoptimismus versus Zukunftspessimismus

In gesellschaftlichen Krisen- und Umbruchsituationen verzichten Menschen auf die Geburt von Kindern. Dies zeigt zum Beispiel das deutliche Absinken der Geburtenrate der neuen Bundesländer nach dem Zusammenbruch der DDR – eine Entwicklung, die in allen ehemals kommunistischen osteuropäischen Ländern festgestellt werden kann. Allerdings trifft der Umkehrschluss nicht zu. Auch mit Stabilisierung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation kehrt die Geburtenrate nicht wieder auf ihr altes Niveau zurück. Unsicherheiten, wie sie zur Zeit in der deutschen Gesellschaft bestehen – hohe Arbeitslosigkeit, Unklarheit über den Fortbestand der Sozialsysteme, hohe Verschuldung und wirtschaftlicher Abschwung –, tragen durchaus mit dazu bei, dass Menschen die Realisation ihres Kinderwunsches erst einmal aufschieben bzw. ganz auf Kinder verzichten.

Sechster Grund: Schwierige ökonomische Situation von Familien

Kinderreiche Familien und allein Erziehende gehören in Deutschland zu den am stärksten von relativer Armut betroffenen Gruppen. Die meisten Familien müssen in der Regel mit dem Einkommen eines Hauptverdieners auskommen und haben damit pro Kopf deutlich weniger zur Verfügung als Kinderlose. Familien stehen gegenüber dem, was sich Singles oder Doppelverdiener ohne Kind leisten können, eindeutig im Abseits.

In Deutschland bekommt eine Familie mit drei Kindern weniger als ein Viertel zusätzliches Einkommen als Transferleistung. In Ländern wie Frankreich oder Belgien sind es dagegen über 60 % Einkommenserhöhung.2 So wird zum Beispiel in Frankreich durch ein so genanntes Familiensplitting explizit die Geburt des dritten Kindes gefördert. Kinderreiche Familien müssen in Deutschland also mit eher niedrigen Transferleistungen auskommen, während Länder mit einer höheren Geburtenrate oft deutlich großzügiger zugunsten der Familien mit mehreren Kindern umverteilen.

Fazit

Die Ursachen für eine Entscheidung gegen Kinder sind auf der einen Seite struktureller Art. Die materielle Ausstattung von Familien ist im Verhältnis zu alternativen Lebensformen häufig schlechter. Fehlende Kinderbetreuungseinrichtungen und familienunfreundliche Arbeitsbedingungen entsprechen nicht den Vorstellungen der Lebensgestaltung von Paaren und Familien.

Auf der anderen Seite hat unsere durch Optionenvielfalt geprägte Gesellschaft einen dominanten Einfluss. Der moderne Mensch soll mobil, flexibel sein, alles, was sich bietet, ausprobieren. Mit der Geburt eines Kindes werden für Eltern aber Optionen großteils verschlossen, insbesondere die der Verwirklichung über eine Berufstätigkeit.

Eine kinderfreundliche Gesellschaft, die ihrer negativen demografischen Entwicklung entgegensteuern möchte, muss sich daher fragen, wo sie Optionen für Familien öffnen und strukturelle Barrieren abbauen kann. Sie muss sich fragen, wo sie Unsicherheiten abbauen und Stabilität schaffen kann. Dazu kann sicher der Blick über die Grenzen in unsere europäischen Nachbarländer nicht schaden. In Ländern wie Dänemark, Schweden, Belgien oder Frankreich, alle mit vergleichsweise hohen Geburtenraten, finden wir Modelle und politische Anstrengungen, Paaren die Vereinbarkeit von Familie und Berufstätigkeit eher zu ermöglichen, finanzielle Leistungen stärker zugunsten der Familien umzuverteilen, gesellschaftlich Akzeptanz für die Berufstätigkeit von Müttern zu schaffen und die Wirtschaft zu motivieren, familienfreundliche Arbeitsbedingungen anzubieten.

Länder, die dagegen traditionell die Mutter mit dem Kind eher im häuslichen Rahmen sehen, die unflexiblere Arbeitszeitmodelle haben, kinderreichen Familien eher wenig finanzielle Umverteilung zukommen lassen, wie Deutschland, Italien oder Spanien, weisen im europäischen Vergleich niedrige Geburtenraten auf.

Es ist also nicht so, dass die Deutschen keine Kinder mehr wollen, sondern dass die gesellschaftlichen Bedingungen in vielen Fällen nicht so ausgestaltet sind, dass Paare eine Vereinbarkeit zwischen ihren Vorstellungen der Lebensgestaltung und einem Leben mit Kind sehen. Und dann – und das mag anders sein als vor 40 Jahren – sich auch bewusst gegen ein Kind entscheiden.

1 Vgl. Huinink, Johannes: Familienentwicklung in europäischen Ländern: Zur Erklärung von Polarisierungsphänomenen, in: Dorbritz, Jürgen und Otto, Johannes (Hrsg.): Familienpolitik und Familienstrukturen, Wiesbaden 2002, S. 47 ff.

2 Vgl. Dienel, Christiane: Familienpolitik – Eine praxisorientierte Gesamtdarstellung der Handlungsfelder und Probleme, Weinheim und München 2002, S. 245.