:: 6/2014

Die volkskundliche Erhebung im Königreich Württemberg

Heute ist weitgehend in Vergessenheit geraten, dass in den Anfangsjahren der amtlichen Statistik im Königreich Württemberg die Landesbeschreibung im weitesten Sinne neben der amtlichen Statistik, der Landesvermessung und Kartografie, der Wetterkunde, der Geologie und der Geophysik eines der wichtigsten Aufgabengebiete des »Statistisch Topographischen Bureaus« und seiner Nachfolgebehörden war. Nach einer im Jahr 1820 erlassenen Instruktion wurden die Aufgaben wie folgt beschrieben: »Eine möglichst genaue und vollständige Landes-, Volks-, Staats- und Ortskunde zu liefern und die jährlich im Zustand des Landes sich ergebenden Veränderungen zu sammeln und nachzutragen, sodass jede Behörde und überhaupt jeder Württemberger Kenntnis von seinem Vaterland erhalte«. So wurde die Volkskunde im ersten Jahrhundert der amtlichen Statistik im Königreich Württemberg zu einer wichtigen Aufgabe.

Die Wurzeln der Volkskunde

Ende des 18. Jahrhunderts erscheint das Wort Volkskunde zuerst im Umkreis der aufklärerischen Statistik und Topografie. Dabei handelt es sich keineswegs um einen eindeutigen Begriff. Einerseits ist es ein Dachbegriff, unter dem ganz verschiedenartige wissenschaftliche Bemühungen zusammengefasst sind, andererseits ein Begriff, dessen Bedeutung derjeniger der damaligen Statistik sehr nahekommt. Statistik bezeichnete damals ja nicht nur die formale Methode des ordnenden, analysierenden und erklärenden Umgangs mit Datenmengen, sondern Statistik war eine weit verstandene Staatskunde, damit aber auch Landes- und Volkskunde.

Die Statistik der Aufklärung gehörte zu den Staatswissenschaften. Die Erkundung der gesellschaftlichen Strukturen war nicht Selbstzweck, sondern diente einer effektiven Verwaltung. Dabei wäre es einseitig, die damaligen volkskundlichen Bemühungen lediglich im Dienste einer möglichst reibungslosen Staatsbestimmung zu sehen. Aufgeklärte Wissenschaftler suchten den Leuten auch das Bewusstsein der eigenen Möglichkeiten und damit Selbstbewusstsein zu vermitteln. In einer Äußerung aus dem Jahr 1812 klingt dies zumindest an: »Das Hauptbedürfnis der Vervollkommnung eines Landes ist die Selbstkenntnis, das Resultat davon und das Mittel hierzu: Statistik.«

Volkskunde im Sinne der Aufklärung wurde natürlich auch anfällig für ideologische Ziele. Durch Volkskunde sollte eine Fundierung und Steigerung des Nationalgefühls erreicht werden, somit konnten alle ausgewiesenen Zeugnisse nationaler Kultur aufgewertet werden. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich die soziokulturellen Interessen der aufklärerischen Statistik im Laufe des 19. Jahrhunderts teilten, und zwar derart, dass die pragmatische Orientierung der Soziologie und den verwandten Sozialwissenschaften vorbehalten bleibt, während sich in den damals oder später der Volkskunde zugerechneten Arbeitsgebieten eine Haltung ausbreitet, welche das gesammelte und bestaunte Volksgut genießt, ohne sich seiner ursprünglichen lebenspraktischen Funktionen bewusst zu werden.1

Die volkskundliche Erhebung von 1900

Schon sehr früh erschienen in den Jahrbüchern für Statistik und Landeskunde immer wieder volkskundliche Artikel und Analysen zu einzelnen Sachverhalten. So gab es im Jahrbuch 1875 eine Abhandlung zu den württembergischen Ortsnamen, 1897 findet sich im Jahrbuch ein Beitrag zu den Grabdenkmalen in Komburg und 1901 wird dargestellt wie die Alemannen Dinkel anbauten. Aus diesen singulären Aktivitäten heraus fassten die führenden Vertreter des Statistischen Landesamtes und der Württembergischen Vereinigung für Volkskunde den Beschluss, gemeinsam eine volkskundliche Erhebung im Königreich Württemberg durchzuführen. Basierend auf den Vorkenntnissen aus anderen deutschen Territorialstaaten plante man für das Jahr 1900 eine flächendeckende Stoffsammlung volkstümlicher Überlieferungen.

Unter der Federführung des Sprechers der Vereinigung für Volkskunde Prof. Dr. Karl Bohnenberger wurde ein Fragebogen konzipiert, der in folgende Bereiche eingeteilt war: Sitte und Brauch, Nahrung und Kleidung, Wohnung und Geräte, Glaube und Sage, Volksdichtung und Mundart. Der fertig gestaltete Fragebogen wurde im Herbst 1899 an alle Gemeinden, Pfarrer und Lehrer des Königreichs Württemberg versandt. Hierzu bat man die Kirchen- und Schulbehörden des Königreichs um ihre Hilfe und rief vor allem die Lehrer zu planmäßigen Berichten auf. Der Aufruf zur Mitarbeit wurde mit folgenden Worten eingeleitet: »Allenthalben in deutschen Landen hat man begonnen, die volkstümlichen Überlieferungen zu sammeln und daraus Kenntnis unseres Volkslebens in Gegenwart und Vergangenheit zu schöpfen. Die Forschung, welche sich der Ergründung und Beschreibung der Lebens- und Anschauungsweise niedrig stehender Völker längst mit Eifer gewidmet hat, wendet sich nun auch dem eigenen Volke zu.«

Da sich der Aufruf um Mithilfe bei der volkskundlichen Erhebung in Form von planmäßigen Berichten vor allem an die Lehrer des Königreichs richtete und die Mithilfe freiwillig war, erhielt dieser Personenkreis einen besonderen Anreiz durch seine vorgesetzte Behörde, indem ihm gestattet wurde, seinen zu verfassenden Konferenzaufsatz für das Jahr 1900 über das Thema »Sammlung volkstümlicher Überlieferungen von der Gemeinde …« zu schreiben. Konferenzaufsätze gehörten damals zu den Pflichtaufgaben der Lehrer und mussten nach vorgegebenem Thema einmal im Jahr bei der vorgesetzten Schulbehörde eingereicht werden. In Zusammenarbeit mit dem Statistischen Landesamt sowie der Kirchen- und Schulverwaltung erging im Herbst 1899 ein »Aufruf zur Sammlung volkstümlicher Überlieferungen«. Der Begriff stammt aus der württembergischen Lehrerfortbildung des 19. Jahrhunderts, deren wesentlichster Bestandteil regelmäßig durchgeführte Lehrerkonferenzen waren. Zwischen diesen mussten die jüngeren Kräfte schriftliche Hausarbeiten anfertigen, die »Konferenzaufsätze«. Rund 600 Konferenzaufsätze wurden im ganzen Land geschrieben und an das Königliche Statistische Landesamt gesandt. Nun galt es diese riesige Stoffmenge zu sichten und zu strukturieren.2 Es gab sehr oft Aufsätze, die ein Volumen von mehr als 100 eng beschriebenen Seiten hatten und mit entsprechenden grafischen Ergänzungen versehen waren.

Ab dem Jahrgang 1904 bis zum Jahrgang 1916 wurden daraus in den »Württembergischen Jahrbüchern für Statistik und Landeskunde« insgesamt acht analytische Darstellungen über die Festbräuche im Ablauf des Jahres, die Bräuche um Geburt, Hochzeit und Tod, die Bräuche bei der landwirtschaftlichen Arbeit sowie einführende Übersichten zu Überlieferungen aus den Gebieten Glauben, Sagen und Volksheilkunde von den federführenden Wissenschaftlern der Vereinigung für Volkskunde veröffentlicht.

Nach Abschluss der ausführlichen Analysen zu den volkskundlichen Überlieferungen in den Jahrbüchern wurden die volkskundlichen Aktivitäten im Statistischen Landesamt nicht abrupt eingestellt. In den Folgejahren wurden immer wieder einzelne Sachverhalte in Form von Jahrbuchbeiträgen untersucht, so zum Beispiel »Die Glocken des Oberamts Riedlingen« (Jahrbuch 1919/20), »Die Waldgerechtigkeiten im ehemaligen Klosterwald Herrenalb« (Jahrbuch 1932/33) und »Die Anfänge des Zeitschriftenwesens in Württemberg« (Jahrbuch 1936/37). Die volkskundlichen Arbeiten und entsprechenden Publikationen im Bereich der amtlichen Statistik Württembergs wurden beendet mit einem Artikel im Jahrbuch 1938/39 zur Geschichte der Juden in Esslingen. Dieser Beitrag kann nicht mehr als objektive wissenschaftliche Abhandlung betrachtet werden, da er ideologisch von nationalsozialistischem Gedankengut überfrachtet ist. In bleibender Erinnerung dagegen bleibt die zentrale Erhebung zu volkstümlichen Überlieferungen in Württemberg, auf die nachfolgend noch detaillierter eingegangen wird.

Feurige Drachen und Wotans Heer

Im Jahrbuch für Statistik und Landeskunde 1904 analysiert Karl Bohnenberger den ersten volkskundlichen Erhebungskomplex »Glauben und Sage«. Unter Glauben werden hier im engeren Sinne die aus vorchristlicher Tradition erhaltenen Glaubensrelikte verstanden. Bohnenberger weist in seinen einleitenden Erläuterungen darauf hin, dass der Anteil des Aberglaubens in den verschiedenen Ortschaften des Landes sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. Aberglauben wird von ihm gleichgesetzt mit dem, was das Volk in Bezug auf die außer- und übernatürliche Welt für wahr hält. Die verschieden starke regionale Ausprägung des Aberglaubens wird von dem Autor damit begründet, wie stark die jeweilige Bevölkerung an das damals modernste Verkehrsmittel (Eisenbahn) angebunden ist. Anders ausgedrückt, je mehr überregionale Kommunikationsmöglichkeiten Menschen besitzen, umso rationaler verhalten sie sich in Bezug auf Glaubensdinge. Heutige Leser der Jahrbücher erfahren dabei allerlei kurios anmutende Dinge, die bei der damals mehrheitlich ländlichen Bevölkerung noch zentrale Glaubensbedeutung hatten.

In den Konferenzaufsätzen wird darüber berichtet, dass in der Gegend der Oberämter Weinsberg, Leonberg und Laupheim Wotans Heer in Form einer Schar in der Luft schwebender menschengestaltiger Geister in Begleitung gespenstischer Tiere gesehen wurde. Hunde, Hirsche, Pferde und Raben dienten den gespenstischen Scharen als Reittiere. Riesen sollen den großen Turm der Kirche in Ringingen-Blaubeuren gebaut haben, ebenso wie den Teufelswall in der Nähe von Rudersberg und Welzheim. Berichte über Erdgeister in Zwergengestalt gibt es aus allen Teilen des Königreichs Württemberg. Eine Besonderheit dagegen sind die Waldgeister, kleine grüne Männchen, die in Oberrot und Gaildorf ihr Unwesen trieben. Auch über feurige Drachen wird aus verschiedenen Landesteilen berichtet. Die Drachen fliegen und schießen durch die Luft, seltsame Lichterscheinungen am Himmel werden auf sie zurückgeführt. Es bestehe auch die Gefahr, dass sie in Häuser hineinfliegen. So soll die Stumpenmühle bei Schwieberdingen bis auf die Grundmauern abgebrannt sein, als man dort am Sonntag gemahlen habe und darauf ein feuriger Drache in die Mühle geflogen sei.

Merkwürdig ist auch der Glauben, dass Priester durch ihre Kleidung Einfluss auf die Witterung nehmen können. Aus dem Oberamt Leutkirch kommt die Mitteilung, dass es noch lange Zeit weiter regnet, wenn der Geistliche an einem Sommersonntag ein grünes Messgewand trägt. Allgemein war im Land die Annahme verbreitet, dass man durch Rühren im Wasser und besonders in Brunnen die himmlischen Wasser aufrühren und damit Wolken, Regen und auch Hagel manipulieren kann. Als probates Mittel gegen Zahnweh wurde im Oberamt Freudenstadt empfohlen, sich die Fußnägel über Kreuz zu schneiden.

Geburt, Hochzeit und Tod

In den Jahrbüchern für Statistik und Landeskunde 1905, 1907, 1909, 1912 und 1913 wurden in Grundsatzuntersuchungen die Ergebnisse der volkstümlichen Überlieferungen zu folgenden Themen dargestellt: Festgebräuche im Jahresverlauf, Sitte und Brauch in der Landwirtschaft, Sitte und Brauch bei Geburt, Taufe und in der Kindheit, Hochzeitsgebräuche sowie Sitte und Brauch bei Tod und Begräbnis. Neben vielen grundlegenden tradierten Bräuchen im Königreich Württemberg, die heute weitgehend in Vergessenheit geraten sind, wird in diesen Analysen auch auf allerlei Kurioses hingewiesen, was hier zumindest exemplarisch erwähnt werden soll.

So wurde in Schwäbisch Hall und Backnang am Heiligen Abend ein Bündel Heu unter den Dachtrauf gelegt und anschließend verfüttert, um das Vieh im kommenden Jahr gesund zu halten. In Gaildorf schützte man sich durch den Verzehr von Kornblumen, Rittersporn oder Klatschrosen (Pfingstrosen) am Johannistag vor den Gefahren eines Blitzschlages. Um die Gärten vor Maulwurfsbefall zu schützen, hüteten sich die Bewohner von Backnang am Backtag ihre Gärten zu betreten. In Weinsberg gab es an den Tagen der Weinbergpflege – speziell an Arbeitstagen, an denen Unkraut gehackt wurde – harte Eier zu essen, damit der menschliche Körper für die harte körperliche Arbeit auch die richtige harte Speise erhält.

In Aalen wurde ein neugeborenes Kind innerhalb der ersten drei Lebenstage zur Taufe gebracht, weil man nicht über Gebühr lange ein Heidenkind im Haus haben wollte. In Freudenstadt durften keine zwei Kinder mit dem gleichen Taufwasser getauft werden, weil sonst die Gefahr bestand, dass eines davon bald sterben würde. In Bad Mergentheim durfte der Brautwagen mit der Aussteuer der Braut in der heimischen Gemarkung nicht anhalten, sonst bekam die Braut Heimweh und die junge Ehe stand unter einem ungünstigen Stern. In Schwäbisch Hall war man der Ansicht, dass in einer jungen Ehe diejenige Person das Sagen hatte, die am Tag der Hochzeit zuerst auf dem Sofa des gemeinsamen Hausstandes Platz nahm. In Nürtingen wurde der Maulwurf als ein Botschafter eines bevorstehenden Todesfalls betrachtet, wenn er in der Nähe eines Hauses einen frischen Erdhügel aufwarf, der dem Hügel eines frisch aufgeworfenen Grabes ähnelte. In Neresheim wurde singenden Kindern diese unheilvolle Gabe nachgesagt. Wenn sie häufiger singend an einem Haus vorbeizogen, so befürchteten die Bewohner, dass einer von ihnen ins Grab gesungen würde.

Die Volksheilkunde

Sehr umfangreich ist die von Heinrich Höhn im Jahrbuch 1917/18 verfasste Auswertung der volkstümlichen Überlieferungen zum Thema Volksheilkunde. In der Volksheilkunde spiegeln sich alle im Volke lebenden Anschauungen der Krankheiten und der dagegen angewandten Heilmethoden. In der medizinischen Wissenschaft dagegen herrscht bis heute die Vorstellung, dass es sich bei der Volksheilkunde um eine modifizierte, zum großen Teil missverstandene und überholte Form alter Verfahrensweisen der Schulmedizin handelt.3 Diese sehr negative Anschauung zur Volksheilkunde greift mit Sicherheit zu kurz. Als Gegenbeispiel sei hier nur der gesamte Aspekt der Heilkräuterkunde aufgeführt, der von kenntnisreichen Frauen und Männern über Jahrhunderte oftmals richtig angewandt wurde, ohne dass diese »Heilkundigen« auch nur annähernd etwas über die chemische Zusammensetzung der verabreichten Kräuter und die damit verbundene physiologische Wirkung im menschlichen Körper wussten.

Höhn strukturiert seine Darstellung der Volksheilkunde nach verschiedenen Krankheitsarten. Er unterteilt in Krankheiten der Atmungsorgane, Krankheiten der Kreislauforgane, Krankheiten des Verdauungstraktes, Nieren-, Harn- und Geschlechtskrankheiten, Gehirn- und Nervenkrankheiten, Blut- und Konstitutionskrankheiten sowie Infektionskrankheiten und Vergiftungen. Neben allerlei auch heute noch nützlichen Hausmitteln bei leichteren Erkrankungen und einer Vielzahl von verwendeten Heilkräutern werden in diesem Beitrag die von der Schulmedizin zu Recht gescholtenen Scharlatanmethoden der Zaubersprüche und magischen Behandlungen aufgeführt. Von diesen unbrauchbaren und oftmals sehr gefährlichen Behandlungsmethoden sei hier nur eine im Originaltext genannt, um die Kuriosität und gleichzeitig auch Absurdität aufzuzeigen: »Das Volk kennt auch den Biertripper, der von in der Hitze genossenem kalten oder schlechten Bier herrührt. Das Übel wird so beschrieben: Man könne das Wasser nicht lassen, habe große Schmerzen am After und meine, man sitze auf lauter glühendem Eisen. Der Biertripper wird dadurch geheilt, dass man sich mit entblößtem Hinterteil auf einen kalten Stein oder in nassen Tau setzt.«

Ein noch lange nicht geborgener Schatz

Wie durch ein Wunder haben fast die kompletten Erhebungsunterlagen der volkstümlichen Überlieferungen die Wirren und Gefahren der beiden Weltkriege überstanden. Sie lagern heute im Württembergischen Landesmuseum, Abteilung Landesstelle für Volkskunde, und gerieten in der breiten Öffentlichkeit weitgehend in Vergessenheit. Diese einmalige Sammlung bietet gerade in der regionalen Tiefe für alle an der Volkskunde Interessierten viele Einsichten in verbreitete Denk- und Verhaltensweisen der damaligen Zeit.

1 Bausinger, Hermann/Jeggle, Utz/Korff, Gottfried/ Scharfe, Martin: Grundzüge der Volkskunde. Darmstadt 1999, S. 1 ff.

2 Internetauftritt der Landesstelle für Volkskunde beim Württembergischen Landesmuseum.

3 Oswald A. Erich/Beitl, Richard: Wörterbuch der Deutschen Volkskunde, 3. Auflage. Stuttgart 1974, S. 900 ff.