:: 10/2009

Flexibilität des Arbeitsmarktes in Baden-Württemberg

Eine ökonometrische Analyse

Gerade in Zeiten von markanten wirtschaftlichen Veränderungen interessieren wir uns für deren Ursachen und Auswirkungen. Neben dem Einfluss dieser Veränderungen auf die gesamte Wirtschaftsleistung kommt ihrem Einfluss auf den Arbeitsmarkt eine herausragende Bedeutung zu. Das beschriebene Arbeitsmarktmodell für Baden-Württemberg quantifiziert die wichtigsten Faktoren, von denen Arbeitsangebot und -nachfrage abhängig sind. Die Reaktion der Arbeitslosenquote Baden-Württembergs auf die modellierten Störgrößen zeigt, dass diese auch bei unvorteilhaften Beeinflussungen nur wenig ansteigt. Im Falle des Anstiegs ist dieser nur von kurzer Dauer, was die schnelle Absorptionsfähigkeit und somit die Flexibilität des Arbeitsmarktes im »Ländle« unterstreicht. Die markanteste Senkung der Arbeitslosenquote – von allen modellierten Störgrößen – kann von der Erhöhung der Produktivität im Dienstleistungssektor erwartet werden.

Arbeitsnachfrage, Arbeitsangebot und institutionelle Faktoren

Das verwendete Arbeitsmarktmodell (siehe i-Punkt) berechnet die Arbeitslosenquote. Die Arbeitslosenquote ergibt sich aus der Differenz von Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage. Als wichtigste Größen der Arbeitsnachfrage erfasst das Modell zunächst die Bruttowertschöpfung, die Reallöhne und die Arbeitsproduktivität. Die Arbeitsnachfrage ist außerdem von institutionellen Arbeitsmarktfaktoren abhängig. Signifikant sind die Steuerlast – direkte und indirekte Steuerquote auf Arbeit und Güter – und der Gewerkschaftsorganisationsgrad. Das Arbeitsangebot umfasst im Modell die Erwerbsquote und die Anzahl der Selbstständigen. Die Erwerbsquote hängt dabei von der Anzahl der Selbstständigen, der abhängig Beschäftigten sowie der Zu- und Abwanderung – jeweils in Relation zur Gesamtbevölkerung der Region – ab. Hinzu kommt die Größe »Ausgaben für die Arbeitsmarktförderung« als signifikanter institutioneller Arbeitsmarktfaktor. Die Anzahl der Selbstständigen hängt von den Gewinnen der Selbstständigen, der Strukturvariablen »Industriebeschäftigte relativ zur Gesamtbeschäftigung« und ebenfalls von den »Ausgaben für die Arbeitsmarktförderung« ab. Die Strukturvariable »Industriebeschäftigte relativ zur Gesamtbeschäftigung« greift indirekt die Entwicklung zur Selbstständigkeit im Dienstleistungsbereich, nach Verlust des Arbeitsplatzes im Industriesektor, auf.

Produktivität bestimmt Beschäftigung bei Dienstleistungen stark

Die Schätzung des Modells1 zeigt eine hohe Anzahl an signifikanten Variablen sowohl auf der Arbeitsangebots- wie auch auf der Arbeitsnachfrageseite. Das adjustierte Bestimmtheitsmaß R² mit Werten zwischen 0,6 und 0,7 zeigt eine gute Erklärbarkeit der abhängigen Variablen von den oben erwähnten unabhängigen Variablen. Dabei hängt die Entwicklung der Anzahl der Beschäftigten in der Industrie2 sehr stark von der Vorperiode ab. Außerdem: je höher das Niveau der Bruttowertschöpfung in der Vorperiode und je niedriger das Niveau der Reallöhne in der Vorperiode, desto stärker steigt die Beschäftigung in der Industrie. Kurzfristig erhöht eine Reallohnänderung die Beschäftigung in der Industrie. Interessant ist, dass ein höheres Niveau des Gewerkschaftsorganisationsgrades aus der Vorperiode – wenn auch nur leicht – der Beschäftigung in der Industrie ebenfalls erhöht. Die Beschäftigten im Dienstleistungsbereich weisen eine deutlich geringere Abhängigkeit zu ihrem Wert der Vorperiode aus. Die mit Abstand stärkste Korrelation mit der Beschäftigung im Dienstleistungsbereich weist die Arbeitsproduktivität auf: Eine Erhöhung der Arbeitsproduktivität geht mit einer deutlichen Zunahme der Beschäftigung einher. Auch die Beschäftigung im Dienstleistungsbereich erhöht sich deutlich, beim Anstieg des Niveaus der Bruttowertschöpfung der Vorperiode. Im Gegensatz zum Falle des Industriesektors führt ein höheres Niveau des Gewerkschaftsorganisationsgrades im Dienstleistungsbereich aus der Vorperiode – wenn auch ebenfalls nur leicht – zu einer Abnahme der Beschäftigung.

Auf der Arbeitsangebotsseite wird die Erwerbsquote nahezu ausschließlich von den abhängig Beschäftigten als Änderungs- und Niveaugröße bestimmt. Die Erwerbsquote hängt nur wenig von ihrem Wert der Vorperiode ab. Zu- und Abwanderungen der Vorperiode sind zwar signifikant, üben jedoch einen geringen Einfluss auf die Erwerbsquote aus. Eine Erhöhung der »Ausgaben für die Arbeitsmarktförderung« geht – allerdings auch nur gering – mit einer Zunahme der Erwerbsquote einher. Die Anzahl der Selbstständigen hängt auch nur gering von dem Wert der Vorperiode ab. Eine Zunahme der Gewinne und deren Niveau der Vorperiode führen zu einer – wenn auch nur geringen – Abnahme der Anzahl der Selbstständigen. Dies lässt darauf schließen, dass entgegen der klassischen Annahme insgesamt gesehen nicht der Mehrverdienst Anlass zur Selbstständigkeit ist, sondern dass die Selbstständigkeit eine Reaktion auf schlechte Anstellungschancen ist. Dies spiegelt auch die hohe Bedeutung des Niveaus der Strukturvariablen »Industriebeschäftigte relativ zur Gesamtbeschäftigung« für die Selbstständigen wider: Fällt die Anzahl der Beschäftigten in der Industrie, so nimmt in der folgenden Periode die Anzahl der Selbstständigen zu. Selbstständigkeit entfaltet sich demnach insbesondere im Dienstleistungsbereich als Reaktion auf Nichtbeschäftigung im Industriesektor.

Arbeitslosenquote Baden-Württembergs reagiert vorteilhaft

Zur Beurteilung der Flexibilität des Arbeitsmarktes Baden-Württembergs simulieren wir ökonomische und politische Veränderungen. Die Auswirkungen der jeweiligen Anstöße beurteilen wir aufgrund der Reaktion der Arbeitsangebots- und Arbeitsnachfrageseite sowie der Arbeitslosenquote. Wir simulieren nacheinander eine konstante 1%ige Erhöhung der unabhängigen Variablen des Modells. Dies sind bei den ökonomischen Variablen jeweils für die Industrie und die Dienstleistungen die Bruttowertschöpfung, der Reallohn und die Produktivität. Bei den institutionellen Variablen sind dies die Steuerlast, der Gewerkschaftsorganisationsgrad und die Ausgaben für die Arbeitsmarktförderung.

Die Auswirkungen der Änderungen von Bruttowertschöpfung und Arbeitsproduktivität sind wie erwartet:

  • Eine Erhöhung der Bruttowertschöpfung bei Industrie und Dienstleistungen führt in Baden-Württemberg zu einem ähnlichen Ergebnis. In beiden Fällen steigt die Beschäftigung kurzfristig (Jahr 0–3) und mittelfristig (Jahr 4–8) an. Langfristig (Jahr 9–15) fällt sie allerdings auf das Ausgangsniveau zurück. Die Erwerbsquote erhöht sich lediglich kurzfristig und geht bereits mittelfristig auf das Ausgangsniveau zurück. Da der Beschäftigungsanstieg (0,1 %) den Erwerbsquotenanstieg (0,05 %) kurz- und mittelfristig übersteigt, liegt die Arbeitslosenquote kurz- und mittelfristig unterhalb des Ausgangsniveaus. Langfristig liegt sie auf Ausgangsniveau. Im Dienstleistungsbereich fällt der Rückgang der Arbeitslosenquote geringer aus. Dies zeigt, dass eine Erhöhung der Bruttowertschöpfung nur kurz- bis mittelfristig die Beschäftigung erhöht. Da die Erwerbsquote zeitverzögert ansteigt, kann die Arbeitslosenquote kurz- und mittelfristig gesenkt werden, insbesondere im Industriesektor. Im Dienstleistungssektor reagiert die Erwerbsquote stärker, da mehr Erwerbspersonen über die notwendigen Qualifikationen verfügen.
  • Eine Erhöhung der Arbeitsproduktivität führt bei Industrie und Dienstleistungen zu unterschiedlichen Ergebnissen: In der Industrie steigt sowohl die Beschäftigung als auch die Erwerbsquote kurz- und mittelfristig an. Langfristig liegen beide wieder auf Ausgangsniveau. Die erhöhte Arbeitsproduktivität führt lediglich vorübergehend zu einem Wettbewerbsvorteil und zu erhöhter Arbeitsnachfrage. Werden die offenen Stellen besetzt, erhöht sich auch die Erwerbsquote. Langfristig führt die einmalige Erhöhung der Arbeitsproduktivität jedoch zu einem Absinken der Arbeitsnachfrage aufgrund von Rationalisierungseffekten. Teils kommt es zu Entlassungen, welche die Erwerbsquote auch wieder sinken lassen. Da die Änderungen zeitverzögert und sehr ähnlich ausfallen, bleibt die Arbeitslosenquote kurz- und langfristig auf Ausgangsniveau, lediglich im mittleren Zeitraum liegt sie leicht unterhalb des Ausgangsniveaus. Eine Produktivitätserhöhung führt bei Dienstleistungen zu einem starken Anstieg der Beschäftigung und weniger stark auch der Erwerbsquote auf kurze Frist. Mittelfristig fallen beide Größen. Langfristig gehen beide Größen nahezu auf das Ausgangsniveau zurück. Über den gesamten Zeitraum reagiert die Beschäftigung deutlich stärker positiv als die Erwerbsquote, sodass die Arbeitslosenquote kurzfristig deutlich (– 2 %), mittelfristig und langfristig auch noch spürbar unterhalb des Ausgangsniveaus liegt. Im Dienstleistungssektor führen Produktivitätserhöhungen unmittelbar – unter anderem Gleichzeitigkeit von Leistungserstellung- und Leistungsverbrauch – zu steigender Wettbewerbsfähigkeit. Dies führt bereits kurzfristig zu einem sehr starken Anstieg der Arbeitsnachfrage. Der starke Anstieg der Arbeitsnachfrage wird lediglich nach und nach von einem Anstieg der Erwerbsquote kompensiert, sodass die Arbeitslosenquote lediglich langfristig wieder auf Ausgangsniveau liegt.
  • Die Auswirkungen der Änderungen des Reallohns, der Steuerlast, des Gewerkschaftsorganisationsgrades und der Ausgaben für die Arbeitsmarktförderung bergen Überraschungen. Allerdings sind die Parameter teils sehr klein, weshalb der Einfluss insgesamt gering ist:
  • Eine Erhöhung des Reallohns spiegelt eine Erhöhung der Löhne in Relation zur Preisentwicklung wider: Der Faktor Arbeit wird also relativ teurer. Die Reaktion der Erwerbsquote ist im Falle der Industrie und der Dienstleistungen ähnlich: Kurzfristig erhöht sie sich, mittel- und langfristig befindet sie sich wieder auf Ausgangsniveau. Die Beschäftigung steigt im Falle der Industrie kurz- und mittelfristig. Höhere Löhne erhöhen folglich den Anreiz eine Erwerbstätigkeit im Industrie- und Dienstleistungssektor aufzunehmen, jedoch nur kurzfristig. Im Dienstleistungsbereich steigt die Beschäftigung lediglich mittelfristig. Da die Beschäftigung im Industriesektor schneller steigt als im Dienstleistungssektor scheint im Industriesektor die Höhe des Lohnes ein wichtigeres Anreizinstrument zu sein als im Dienstleistungsbereich. In der Industrie ist der Anstieg der Beschäftigung wiederum größer als der der Erwerbsquote. Dies zeigt das begrenzte Potenzial von Nichterwerbstätigen – beispielsweise mangels geeigneter Qualifikation – in der Industrie eine Beschäftigung aufzunehmen. Folglich liegt die Arbeitslosenquote hier kurz- und mittelfristig unterhalb des Ausgangsniveaus im Gegensatz zur klassischen Hypothese.3 Bei den Dienstleistungen führt der geringe Anstieg der Beschäftigung relativ zum stärkeren Anstieg der Erwerbsquote dazu, dass die Arbeitslosenquote kurzfristig steigt. Lediglich mittel- sowie langfristig liegt diese wieder auf Ausgangsniveau. Im Dienstleistungssektor steigt die Zahl der Erwerbslosen unter den Erwerbstätigen folglich kurzfristig stärker als Reaktion auf eine Reallohnänderung, da zu wenige der Erwerbstätigen eine Beschäftigung aufnehmen können.
  • Die Erhöhung der Steuerlast analysieren wir für die Industrie und Dienstleistungen gemeinsam, da unser Modell dieselbe Variable für beide Fälle enthält. Eine Erhöhung der Besteuerung geht kurz- und mittelfristig mit einem geringen Anstieg der Beschäftigung einher.4 Man könnte auch sagen eine geringe Erhöhung der Besteuerung kann vom Beschäftigungsanstieg »verkraftet« werden. Die Erwerbsquote steigt ebenfalls kurz- und mittelfristig an. Insbesondere kurzfristig liegt diese höher als die Beschäftigung. Die Arbeitslosenquote liegt kurzfristig oberhalb des Ausgangsniveaus, mittelfristig ganz leicht darunter, bevor sie langfristig wieder auf das Ausgangsniveau ansteigt.
  • Eine Erhöhung des Gewerkschaftsorganisationsgrads wirkt in dem zugrunde gelegten Arbeitsmarktmodell ähnlich wie eine Erhöhung der Besteuerung. Beschäftigung und Erwerbsquote reagieren positiv, jedoch noch etwas schwächer und etwa eine Periode später. Die Arbeitslosenquote liegt kurz- und langfristig auf Ausgangsniveau, mittelfristig liegt sie marginal unterhalb des Ausgangsniveaus. Eine Erhöhung der Besteuerung schlägt folglich schneller auf den Arbeitsmarkt durch als eine Erhöhung des Gewerkschaftsorganisationsgrades. Eine Erhöhung des Gewerkschaftsorganisationsgrades wirkt sich auch deshalb nicht erhöhend auf die Arbeitslosenquote aus, da die Beschäftigungsentwicklung vom Dienstleistungssektor dominiert wird, Gewerkschaften jedoch überwiegend in der Industrie beheimatet sind.
  • Die Erhöhung der Ausgaben für die Arbeitsmarktförderung führen insbesondere zu einem anhaltenden, höheren Niveau der Erwerbsquote. Der Anstieg der Beschäftigung fällt hingegen nur marginal aus. Als Folge steigt insbesondere kurzfristig die Arbeitslosenquote über das Ausgangsniveau. Aber auch mittel- und langfristig liegt die Arbeitslosenquote etwa 1 % über dem Ausgangsniveau. Die Maßnahmen wirken folglich dauerhaft auf der Arbeitsangebotsseite, erhöhen die Beschäftigung jedoch nicht in ausreichendem Maße! Es liegt eine Diskrepanz zwischen Arbeitssuchenden und Arbeitsanbietenden beispielsweise in Hinblick auf Qualifikation oder räumlicher Präferenz vor.

Die Modellsimulationen zeigen, dass Baden-Württemberg sehr robust auf die hier dargestellten Anstöße reagiert. Die Beschäftigung, die Erwerbsquote und die Arbeitslosenquote erreichen nach ca. 6 Jahren wieder das Ausgangsniveau. Besonders vorteilhaft reagiert die Arbeitslosenquote, welche bereits nach einem Jahr unterhalb oder auf dem Ausgangsniveau liegt – auch bei vermeintlich negativen Anstößen wie einer Erhöhung des Reallohns oder der Steuerlast. Der Arbeitsmarkt Baden-Württembergs würde insbesondere von einer Erhöhung der Produktivität bei Dienstleistungen profitieren. Die Eigenschaft der Robustheit gilt jedoch auch für beschäftigungsfördernde Veränderungen. Der Beschäftigungszuwachs als Reaktion auf positive Anstöße wie einer Erhöhung der Bruttowertschöpfung oder der Arbeitsproduktivität ist lediglich von kurzer Dauer. Da die Erwerbsquote später als die Beschäftigung auf die Anstöße reagiert, bestimmt diese mittel- und langfristig die Entwicklung der Arbeitslosenquote!

Insgesamt zeichnet sich der Arbeitsmarkt Baden-Württembergs durch eine beachtliche Anpassungsgeschwindigkeit zur Rückkehr auf das Ausgangsniveau und somit eine große Flexibilität zur Verarbeitung von Veränderungen aus.

1 Das Modell wurde mit der SUR (Seemingly Unrelated Regression)-Methode geschätzt. Diese sollte immer dann der Standardschätzmethode OLS (Ordinary Least Squares) vorgezogen werden, wenn systematische Korrelationen zwischen den Fehlertermen der einzelnen Gleichungen vorliegen. Dies war im Gesamtmodell mit mehreren Bundesländern der Fall, weshalb hier die SUR-Methodik zu hochwertigeren Ergebnissen führt (siehe Fauser, Simon (2009): A regional labour market model for Germany – an analysis of macroeconomic shocks and economic policy variables, Università Cattolica del Sacro Cuore, Milano & Piacenza).

2 Im Folgenden sprechen wir vereinfachend von »Beschäftigung« anstelle von »Anzahl der Beschäftigten«.

3 Die klassische Hypothese erwartet, dass ein Anstieg des Reallohnes zu einem Rückgang der Beschäftigung führt.

4 Da unser Modell einen signifikanten Zusammenhang zwischen Steuerbelastung und Beschäftigung in derselben Periode ausweist, ist der Kausalzusammenhang zwischen beiden Größen hier nicht eindeutig identifizierbar. Folglich könnte die Aussage auch lauten: Mit steigender Beschäftigung steigt auch die Steuerquote.